Lucien Favre hat den Blitzfußball erfunden – am Sonntag lässt er Gladbachs Raser gegen den VfB los. In Stuttgart liegen die Nerven blank.  

Stuttgart - Der überfallartige Konterfußball der Gladbacher Borussen letzte Woche gegen den FC Bayern bleibt nicht unbestraft: Der DFB-Kontrollausschuss ermittelt gegen Marco Reus und Patrick Herrmann wegen Blitzkickerei und gegen Juan Arrango wegen Komplizenschaft - sie sollen bei ihrem Konter zum 3:0 in der Tempo-30-Zone der Bayernabwehr mehrfach geblitzt worden sein.

 

Unter schwerem Verdacht steht vor allem der Doppeltorschütze Herrmann: Demnach hat er vor seinen beiden Treffern auf den letzten Metern sogar mit einer höheren Schubkraft beschleunigt als Armin Hary anno 1960 in Zürich, wo er als erster Mensch die 100 Meter in 10,0 lief. Verglichen mit Herrmann und Reus, die gegen die Bayern handgestoppt mit unfassbaren 47 Kilometern pro Stunde gemessen wurden, schlenderte Hary, der "Weiße Blitz", damals mit Tempo 36 noch geradezu betulich zum Sieg.

"Diese Raserei ist gewissenloser Wahnsinn, so geht der Fußball kaputt", soll ein blutunterlaufener Uli Hoeneß gepoltert haben, und selbst wenn dieses üble Gerücht so erstunken und frei erfunden ist wie der Schlachtplan von VfB-Trainer Bruno Labbadia vor dem Besuch der Borussen am Sonntag ("Wir trainieren statt der Abseitsfalle die Radarfalle"), zeigt es doch eines: die Nerven liegen blank.

Zack-zack-Fußball unter einem Schweizer

Erfüllen Gladbachs fulminante Konter den Tatbestand der Wettbewerbsverzerrung? "Die kommen ja in Null Komma nix zum Abschluss", hat der Altbayer Mehmet Scholl als ARD-Experte letzte Woche gestöhnt - und auch sein Moderator Beckmann so gut wie zugegeben, dass er diesem Fußball mit dem bloßen Auge nicht mehr folgen kann.

Schuld ist Lucien Favre. Wenn der Schweizer so weitertrainiert, wird er in Gladbach bald in einem Atemzug genannt mit Hennes Weisweiler, dessen MG-Fußball in den 70ern nur ein Motto kannte: "dalli-dalli". Unter 7:1 (gegen Inter), 11:0 (gegen Schalke) oder 12:0 (gegen Dortmund) haben es die Gladbacher nur ungern gemacht, allerdings rannten sie gelegentlich auch ins Messer. Da beugt Favre jetzt vor. Als Taktikfuchs macht er hinten dicht, und es funktioniert, denn diszipliniert geht jeder Borusse so weite Wege, dass ein Reporter nach dem Abpfiff einmal Mike Hanke fragte: "Ist das Ihre Zunge, die Ihnen aus dem Hals raushängt, oder eine Krawatte?"

Ja, und beim Kontern geht voll die Post ab. Wo sich Weisweiler mitunter noch ärgern musste ("Abseits is, wenn dat lange Arschloch zu spät abspielt") wird unter Favre jetzt zack, zack abgespielt. Ausgerechnet ein Schweizer. Wo doch zu unseren derbsten Scherzen der gehört: Ein langsamer Schweizer und ein schneller Schweizer rennen nach dem Ball, wer erobert ihn? Antwort: der langsame Schweizer - einen schnellen gibt es nicht.

Schnelligkeit siegt

Favre ist der erste, und spontan denkt man bei Gladbachs Blitzfußball an Muhammad Ali, der in der Blüte seines Boxens wie ein Schmetterling tanzte, wie eine Biene stach und glaubhaft versicherte: "Ich drücke an der Schlafzimmertür auf den Schalter und bin im Bett, noch ehe das Licht ausgeht."

Schnelligkeit siegt. Favre hat die Borussen so geschwind vom Fast-Absteiger zum Fast-Herbstmeister und Fast-Tabellenführer hochtrainiert, dass man jetzt weiß, warum das englische "Fast" auf Deutsch schnell heißt. Unlängst gab er ein Interview, in dem jedes dritte Wort "Bewegung" und jedes zweite "Beschleunigung" hieß, hören wir kurz rein: "Ich verlange Schnelligkeit im Kopf und in den Beinen, schnelle Kombinationen - nur wer schnell ist und ein Spiel schnell lesen kann, kann heute noch Fußballer sein."

Schnell, schnell, schnell. Schon mit Hertha BSC spielte Favre den eiligsten Fußball der Liga, zwischen Ballannahme und Ballabgabe vergingen im Schnitt nur 1,1 Sekunden. In Gladbach geht es jetzt noch einen Tick rasanter - manchmal spielt Marco Reus den Ball oft schon weiter, noch ehe er ihn hat.

Reus ist eine Rakete

Ohne Stoppuhr ist dieser Favre-Fußball gar nicht mehr denkbar, Jogi Löw schildert den Trend am Beispiel der Nationalmannschaft: "2005 dauerte es von der Ballannahme bis zum Abspiel noch 2,8 Sekunden. Bei der EM 2008 haben wir uns auf 1,8 Sekunden verbessert, und bei der WM in Südafrika kamen wir gegen England und Argentinien sogar auf Werte von unter einer Sekunde." Mit Reus, Götze und Schürrle will er demnächst vollends die Schallmauer durchbrechen. Ball annehmen, schauen, weiterspielen, das war gestern. Im Favre-Fußball wird der Ball nicht mehr lange Gassi geführt wie ein Hündchen, und apropos: bei Waldi an dessen ARD-Stammtisch hat auch Günter Netzer den Gladbacher Trainer dieser Tage schwer gelobt - wobei der Ex-King vom Bökelberg den Tempoaspekt sicherheitshalber nicht extra betonte, sonst hätte neben ihm der Komiker Matze Knoop auf der Stelle Rudi Völler nachgemacht und im Rückgriff auf dessen berühmte Wutrede noch mal ungefähr behauptet, dass der Netzer in jener Gladbacher Ära kurz nach dem Krieg ein ätzender Standfußballer war, der mit Schuhgröße 48 und gemessenen Schrittes plattfüßig aus der Tiefe des Raumes stapfte.

Reus, der MG-Schnellfeuerschütze von jetzt, ist dagegen eine Rakete. Seine Gegner sehen sich zuweilen einem Fußball ausgesetzt, mit dem die Gladbacher in Amerika in den Polizeibericht kämen: "Hit and run" heißt es dort, wenn einer blitzschnell vorbeirast, geschwind aus dem Autofenster schießt und sich wieder aus dem Staub macht.

So etwa kommen sich die aufgescheuchten Gegner oft vor, als Opfer der rasendes Rowdys um Reus. Umso mehr lacht Lucien Favre, und es wäre ihm vermutlich völlig egal, ob ihn der Kontrollausschuss wegen Anstiftung zum halsbrecherischen Zack-Zack-Hochgeschwindigkeitsfußball belangt oder dem Verkehrszentralregister für Temposünder meldet: Flensburg oder Bundesliga - drei Punkte sind drei Punkte.