Noch nie ist mit dem reinsten Gewissen so viel und so selbstverständlich gelogen worden – vor allem im Sport, und nicht nur im Radsport. Mittlerweile kann man selbst Lügendetektoren nicht mehr trauen.

Stuttgart - Liebe Leser, danken Sie dem Herrgott mit einem vielfachen Vaterunser, dass Sie nicht Politiker, Sportstar oder Schauspieler geworden sind – denn deren großes Problem hat Roger Moore alias James („007“) Bond einmal so beschrieben: „Ich gebe ungern Interviews, weil ich immer Schwierigkeiten habe, mich an die Lügen zu erinnern, die ich beim letzten Mal erzählt habe.“

 

Nicht nur von Journalisten wird gelogen wie gedruckt, sondern auch in Grabreden, Heiratsannoncen oder im Wahlkampf, aber vor allem im Sport. Den Mikrofonen werden nach Spielende die abscheulichsten Märchen erzählt, bis hin zum falschen Ehrenwort des vierfachen Torschützen: „Ich bin völlig unwichtig, es geht um das Team, den Club und unsere tollen Fans.“ Gefühlsbetonter hat nicht einmal der Stasichef Erich Mielke gelogen, als er anlässlich des Mauerfalls in der DDR-Volkskammer beim Augenlicht seiner Liebsten schwor: „Ich liebe euch doch alle!“

Wir Gutgläubigen werden heutzutage tagtäglich so infam hinters Licht geführt, dass sich die Balken biegen, und alle Dämme sind spätestens gebrochen, als Jan Ullrich im Fernsehen wetterte: „Ich traue keiner Socke mehr über den Weg.“ Live und in Farbe hat diese Socke das gesagt – und ist kein bisschen rot geworden.

Nie zuvor wurde so selbstverständlich gelogen wie heute

Schon früher haben viele die Wahrheit oft sorglos gehandhabt, aber heute wird sie sicherheitshalber erst gar nicht mehr angefasst. Wo Helmut Schmidt als Bundeskanzler noch frohgemut an das Gute im Menschen glaubte („Ich lese ab und zu die ,Bild‘-Zeitung, die Bundesligaergebnisse sind dort meistens richtig“), darf man inzwischen nicht mal mehr den Ergebnissen trauen, dank Doping, Bestechung und Wettmafia. Nie zuvor ist auf unterschiedlichste Art mit dem reinsten Gewissen so selbstverständlich gelogen worden wie heute: Entweder lügt man direkt – oder präsentiert die Wahrheit zumindest so, dass es keiner merkt.

Ottmar Hitzfeld, der jahrzehntelang als ehrlichste Haut der Fußballwelt galt, hat als Schweizer Nationaltrainer kürzlich zwecks Vergeltung gegen einen spanischen Schiedsrichter den Stinkefinger gezückt und hinterher behauptet: „Die Geste galt mir selbst.“ Als Erfinder der selbstlosen Selbstbeleidigung wird Hitzfeld seither gefeiert, und mit seinem Eingeständnis hat er Einzug gehalten in die Top Vier der verwegensten Schwüre der Weltgeschichte, dicht hinter Bill Clinton („Ich habe keine sexuellen Beziehungen zu Miss Lewinsky gehabt“), dem Präsidenten Achmadinedschad („Es gibt im Iran keine Homosexuellen“) und dem DDR-Staatschef Walter Ulbricht, der im Juni 1961 in Berlin mit sich überschlagender Fistelstimme verkündete: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.“

Dass die Politiker aber noch viel weniger die Absicht haben, die Wahrheit zu sagen, müssen wir hier keinem mehr erzählen. Bevor er einer Regierungserklärung traue, meinte einmal der Linke Klaus Ernst, bitte er eher den Würger von Boston um eine Halsmassage. Aber lenken wir nicht ab, bleiben wir beim Sport.

Löws Spruch im ZDF-Sportstudio war auch nicht ganz neu

Der vorläufige Höhepunkt war vor ein paar Tagen die Nachricht, dass Lance Armstrong die Menschheit im Kampf um die Wahrheitsfindung entscheidend voranbringen will – der berühmt-berüchtigte Amerikaner hat seinen Anwalt in einem BBC-Interview verkünden lassen, dass er gerne einem Lügendetektor seine Unschuld beweisen wolle. Wenn wir diesen Optimismus richtig deuten, würde Armstrong das Verhör auf dem elektrischen Stuhl der Wahrheit ohne nennenswerte Erregungsschwankungen locker auf einer Backe absitzen, und zwar ungefähr so: Haben Sie Pillen und Spritzen genommen? – „Nein.“ – Eigenblut? – „Nein.“ – Aber Sie wissen, was Doping ist? – „Nein. Nie gehört.“

Unabhängig von aller Abgebrühtheit kann so ein Test aber auch seine Tücken haben. Als Christoph Daum einst unter Kokainverdacht geriet, unterzog sich der Fußballlehrer, um allen niederträchtigen Gerüchten den Wind aus den Segeln zu nehmen („Ich habe ein absolut reines Gewissen“), kühn einer freiwilligen Haaranalyse – die ihn dann Kopf, Kragen und den Job als Bundestrainer kostete.

Auch Lügendetektoren haben ihre Mucken

Apropos Bundestrainer: auch beim jetzigen stellt sich die Glaubensfrage – ist alles authentisch, was Jogi Löw zuletzt sagte? Am vergangenen Samstag war er im ZDF- „Sportstudio“, und als ihn die Moderatorin Katrin Müller-Hohenstein etlicher Fehler verdächtigte, verteidigte er sich und alle Entscheidungsträger mit dem Satz: „Ich habe noch keinen getroffen, der gesagt hätte: Heute mach ich mal so richtig Mist!“ Lachend nahm Löw danach sein Bad im Beifall, denn der originelle Spruch kam beim Publikum prima an – war dummerweise aber nicht ganz neu, just am selben Morgen hatte der VfB-Meisterpräsident Erwin Staudt hier an dieser Stelle erklärt: „Ich kennen keinen, der morgens sagt: Heute mach ich mal einen richtigen Scheiß!“

Hochinteressant wäre nun folgendes Experiment. Der Bundestrainer lässt sich anketten an einen Lügendetektor, der ihn fragt: „Haben Sie Staudts zündenden Spruch wissentlich gestibitzt?“ – und wenn Löw dann „Nein“ sagt, prüft eine Manschette am Oberarm sofort seinen Blutdruck. Die an die Finger geklemmten Elektroden messen den Angstschweiß, und wenn der Bundestrainer Pech hat, schlägt der Zeiger des Geigerzählers spätestens wegen der Atem- und Herzfrequenz aus.

Doch die Wahrheit wissen wir dann immer noch nicht, so ein Apparat hat seine Mucken. So weit sind wir schon gekommen, sogar die Lügendetektoren lügen wie die Sportler, Politiker, Schauspieler oder die Marktschreier – kaufen Sie bei denen mal eine Kiste Erdbeeren: Oben liegen die schönen und großen, unten die mickrigen und matschigen.