Wer nicht alle 40 Jahre absteigt, ist selbst schuld. Das ist historisch belegt, denn der VfB Stuttgart hat mit Trainer Jürgen Sundermann ja schon einmal die zweite Liga erobert – 1976/77. Ein Augenzeugenbericht dieser wunderbaren Wiederauferstehung.

Stuttgart - Am Freitag startet die zweite Liga. Die meisten VfB-Fans haben keine Ahnung, was das ist und was auf sie zukommt – und sie zittern deshalb wie vor dem Zahnarzt, wenn der sagt: „Ich stopfe mir noch schnell Watte in die Ohren, und dann legen wir los.“

 

Ruhig Blut. Es wird schon. Das ist jetzt kein billiges Versprechen, sondern historisch belegt. Hier schreibt einer der Überlebenden des letzten VfB-Abstiegs, aber vor allem ein Augen- und Zeitzeuge der wunderbaren Wiederauferstehung danach, und wer jetzt weiterliest, kriegt in der Vorfreude auf das, was den VfB erwartet, gleich feuchte Augen – jedenfalls verliert die zweite Liga schlagartig ihren Schrecken.

Der folgende Blick in die Vergangenheit darf also getrost als Blick in die Zukunft betrachtet werden, denn Geschichte wiederholt sich, und wir stehen gerade wieder da, wo Trainer Albert Sing im Frust des Abstiegs ’75 seinem Präsidenten Gerhard Mayer-Vorfelder dringend riet: „Clubräume ausschwefeln, Eiterbeulen ausdrücken!“ Für die Umsetzung dieses anspruchsvollen Konzepts war die Stunde null ideal.

Bis zur Wiedergeburt war der Weg zunächst trotzdem steinig. Zangengeburt wäre zu wenig gesagt, da drohte ein blutiger Kaiserschnitt, und am besten fangen wir mit dem Schriftstück an, zu dem sich Mayer-Vorfelder gleich als frischgebackener Zweitligist gezwungen sah. Am 27. November 1975 hackte der VfB-Boss fuchsteufelswild die folgende Kriegserklärung an Professor Bausch, den Chef des Süddeutschen Rundfunks, in seine Schreibmaschine:

„Sehr geehrter Herr Intendant, ich möchte Sie über einen Sachverhalt unterrichten, der zu einer Auseinandersetzung zwischen der Sportredaktion Ihres Hauses und dem VfB Stuttgart geführt hat. In der Sportsendung ,S 3‘ am Sonntag, den 16. November 1975, berichteten die Sportredakteure Million und Kaiser über das Spiel des VfB Stuttgart gegen Schweinfurt 05. Im Zuge einer Konferenzschaltung bemerkte Herr Million unter anderem, dass er sofort wieder an das Funkhaus zurückgebe, da dieses Spiel des VfB keine Sekunde Sprechzeit mehr wert sei. Im gleichen Zusammenhang gab Herr Kaiser einen ,Witz‘ zum Besten, wonach in Zukunft an den Wurstständen vor dem Neckarstadion Hundefutter verkauft würde, da sowieso nur noch ,blöde Hunde‘ zu den Spielen des VfB gehen würden.“

Ein trostloser Start

Die späteren Spitznamen „Mayer-Vorderlader“ und „Mayer-Vorlaut“ sind da erstmals zu erahnen – aber andererseits: Durfte man Gerd Million und Klaus Kaiser wirklich vorwerfen, dass sie sich unbestechlich mit der bitteren Wahrheit aus dem Stadion meldeten?

Ein trostloser Start. Der Trainer hieß Istvan Sztani, und weil der Ungar ein berühmter Meisterspieler der Frankfurter Eintracht von 1959 war, hingen die VfB-Profis an seinen Lippen – doch seine Ansprachen wollten einfach nicht enden, „und irgendwann“, erinnert sich Helmut Dietterle, „haben die Spieler in den hinteren Reihen angefangen, ihre Lottozettel auszufüllen“. Außerdem ließ Sztani mit Medizinbällen trainieren, und fünf Wochen lang ging es gut, vier Siege, ein Unentschieden. Aber dann, keiner weiß, warum, warf sich VfB-Torwart René Deck, ein Schweizer, beim Spiel in Augsburg den Ball mittels Pirouette ins eigene Tor.

„Von nun an ging’s bergab“, sang Hildegard Knef, und MV machte in solchen Fällen keine Gefangenen. Er hatte zu der Zeit seine Sturmfrisur mit den über die Ohren gekämmten Herrenwinkern, und als im Fallschirmjägerbataillon 251 in Calw gedrillter Reserveoffizier feuerte er Sztani schon im Frühjahr. Karl Bögelein, der VfB-Meistertorwart aus den 1950ern, übernahm als Nottrainer am 1. April, aber für einen Scherz hielt das längst keiner mehr.

Inmitten der finsteren Krise kam dann der 1. Mai 1976, der alles veränderte. Der VfB verlor diesmal beim SV Waldhof, und in der Ecke des dortigen Clublokals sehe ich plötzlich einen Lockenkopf und weiß sofort wieder: 1960, Neckarstadion, 2:1 gegen Chile. Ich saß als Bub in der Cannstatter Kurve, und ein Bub vergisst keinen Helden seiner Kindheit. „Was führt Sie hierher?“, fragte ich meinen alten Helden. Der war zu der Zeit noch ein schlechter Lügner, und am nächsten Morgen hatte ich meinen Exklusivknaller: „Jürgen Sundermann wird VfB-Trainer.“

„Gerd, hosch du no Geld im Sack?“

Er sagte zu, obwohl der VfB, wie Geschäftsführer Ulrich Schäfer jammerte, „arm war wie eine Kirchenmaus“. Die Vertragsunterschrift wurde begossen in einem Spätlokal namens Moulin Rouge – und als der Kellner mit der zweiten Flasche Schampus winkte, lotste Schäfer den VfB-Boss erschrocken aufs Klo und fragte: „Gerd, hosch du no Geld im Sack?“ Wen die zwei angepumpt haben, weiß bis heute keiner.

Bevor der VfB die zweite Liga eroberte, musste er aber noch durch den Tiefpunkt seiner Vereinsgeschichte, das 2:3 gegen den SSV Reutlingen vor 2500 fassungslosen Augenzeugen. In den Katakomben des Neckarstadions ahnte Mayer-Vorfelder am Abend jenes historisch wertvollen 22. Mai 1976: „Wenn ich künftig noch Freikarten verschenke, riskiere ich Beleidigungsklagen.“ Der VfB beendet die Saison in den Abgründen der zweiten Liga. Platz elf.

Dann fing Sundermann an. Der neue Trainer war kaum älter als seine jungen Wilden Karlheinz Förster (17) und Hansi Müller (18) zusammen, und in sein VfB-Konzept „Jugend forscht“ passte auch der Schwabenpfeil. Dieter Hoeneß, der große Blonde, war kein Pelé. Als Torjäger hatte ihn der VfB vom VfR Aalen geholt, aber bald sagte Vizepräsident Gerd Renz: „Vielleicht kann man einen Vorstopper aus ihm machen.“ Fußballästhetisch betrachtet war Hoeneß kein ungetrübtes Vergnügen, und eines Tages verriet mir sein Mitspieler Dietterle: „Wenn du mit dem Dieter Doppelpass spielen willst, musst du ihn anschießen.“ Als es anderntags in der Zeitung stand, war der Teufel los, und vermutlich hat uns Hoeneß nur deshalb nicht verklagt, weil es die Wahrheit war.

Das wusste auch Sundermann. Aber vor allem wusste er, was an Kraft und unbändigem Willen in Hoeneß steckte. Und wie er ihn zur Höchstleistung kitzeln konnte. Sundermann war ein Schlitzohr. Einmal, in der Saison nach dem Aufstieg, nahm er mich am Ärmel und verriet mir brühwarm: „Lassen Sie meinen Namen weg, aber der Hoeneß braucht dringend eine Pause.“ Ich schreibe es dankbar, und im nächsten Spiel gegen 1860 München fehlt Hoeneß tatsächlich. Bei Halbzeit steht es 0:1. Hoch motiviert läuft sich Hoeneß warm, wird eingewechselt, dreht das Spiel, Endstand 3:1 – und in der Pressekonferenz sagt Sundermann: „Dieter gab die richtige Antwort auf die übertriebene Kritik in der Zeitung.“

Sundermann: „Geht raus und fresst Gras!“

Man konnte ihm nicht bös’ sein. Er war der Wundermann. Er hat den VfB wieder auf die Beine gestellt, in puncto Kasse und Klasse. „Wahnsinn war dat“, sagt Sundermann heute, „die Jungs taktierten nicht. Die konnten das gar nicht. Die wollten immer nur alles niedermachen, offensiv, optimistisch, hemmungslos.“

Nur einmal bestand noch die Gefahr, dass beim Höhenflug der Blitz einschlägt – vor dem Auswärtsspiel bei Bayern Hof. Hansi Müller musste als Abiturient an jenem Samstagmorgen noch in die Schule, wurde mittags mit einer wackligen Cessna von Echterdingen nach Hof geflogen, und weil noch ein Platz frei war, flog ich mit, hinein ins dickste Sauwetter. Dass wir im Blindflug am Ende nicht ins Flakfeuer der DDR-Grenzer gerieten, war purer Zufall – und sicherheitshalber hat Sundermann seinen Jungstar dann nicht aufgestellt, worauf der VfB prompt verlor. Zurück ging es abends im Mannschaftsbus, und auf Höhe Nürnberg packte Ottmar Hitzfeld neben mir die Sporttasche aus und sagte ohne Rücksicht auf die unverdauliche Niederlage: „Essen müssen wir trotzdem was.“ Und dann putzten wir die Wurstbrote weg, die Beatrix Hitzfeld zu Hause mit Senf und Liebe bestrichen hatte. Grundsätzlich galt gegen den Hunger beim VfB aber weiter der Kabinenschrei von Sundermann: „Geht raus und fresst Gras!“

Der Trainer ging mit gutem Beispiel voran. Es gibt ein Foto, wie er flach vor der Bank liegt und das Gras wirklich frisst. Er stürmte mit, synchron zum Linienrichter, und auf der Tribüne liefen Wetten: Wann macht er einen Einwurf, wann schlägt er eine Ecke? Deutschland hat sich damals gestritten, wer die größere Show ist, der Trainer Sundermann – oder seine Monika in „Dalli Dalli“ im ZDF als Assistentin von Hänschen Rosenthal, der immer in die Luft sprang und rief: „Das war Spitze!“

Die VfB-Fans sollten das Leben nach dem Abstieg genießen

Vor allem der VfB war Spitze. Der Dichter Walter Jens sagte mal: „Wenn ich den letzten Goethe-Vers vergessen habe, werde ich den Eimsbütteler Sturm noch aufzählen können.“ Und Peter Handke erklärte „Die Aufstellung des 1. FC Nürnberg vom 27. 1. 1968“ zum Gedicht – aber das ist alles nichts gegen die VfB-Aufstellung vom 13. Mai 1977: Roleder – Martin, Elmer – Schmider, Holcer, Förster – Hitzfeld, Ohlicher (59. Dietterle), Hoeneß (46. Beck), Müller, Jank.

Es war ein Freitag, der 13., aber nur für Jahn Regensburg, denn 8:0 ist es ausgegangen, mit sechs Toren von Hitzfeld. Das letzte Spiel war dann nur noch Formsache. Mit Erich Baumann, dem Weltmeister der Sportfotografen, fuhr ich nach Trier, kurz vor dem Stadion aßen wir zu Mittag, und am anderen Tisch droschen drei VfB-Fans einen Skat. „Vergesset’s Spiel net“, mahnte Baumann, „noi, noi!“, schrien alle, aber als wir abends in derselben Kneipe zum Vespern wieder anhielten, saßen sie immer noch da und empfingen uns mit Gebrüll: „Nie mehr zweite Liga!“ So stieg der VfB wie Phönix aus der Asche und machte danach die Bundesliga verrückt – mit 55 000 Zuschauern im Schnitt.

Wer nicht alle 40 Jahre einmal absteigt, ist selbst schuld. Das ist es, was wir vor dem VfB-Auftakt gegen St. Pauli jetzt kurz loswerden wollten, damit die Besorgten nicht weiterhin glauben, dass die zweite Liga der Friedhof des Fußballs ist. Um sie zu beruhigen, sei auch noch rasch an die beste Rolle von Karl Valentin erinnert. Der Münchner Komiker lag in den letzten Zügen, doch als er sanft durch die Himmelspforte schwebte, eskortiert von Engeln mit Harfen, bäumte er sich freudig erregt noch mal auf und juchzte mit glühenden Backen: „Da hab’ ich ein Leben lang Angst vor dem Sterben gehabt – und jetzt das.“ Das Paradies.

Die VfB-Fans sollten das Leben nach dem Abstieg genießen. Der Wiederaufstieg kommt früh genug.

Die Helden von einst – was machen sie heute?

Der VfB Stuttgart strebt in der bevorstehenden Saison den Aufstieg in die Fußball-Bundesliga an. Das ist dem Verein schon einmal gelungen – im Mai 1977. Was machen die damaligen Stammspieler heute?

Der Torwart

Helmut Roleder (62/37 Einsätze/kein Tor). Nach der Karriere arbeitete er als Sportjournalist und war in der Unternehmensberatung eines Verlages tätig. Momentan berät er Unternehmen. Er ist Kommunikationstrainer und Referent für Motivationsvorträge. Im Jahr 2011 hat er sich erfolglos als VfB-Präsident beworben.

Die Abwehr

Bernd Martin (61/32 Einsätze/sieben Tore). In Ulm besitzt er eine Firma für Gebäudereinigung. In der Freizeit spielt er gerne Golf.

Dragan Holcer (38 Einsätze/ein Tor). Er ist am 23. September 2015 im Alter von 70 Jahren gestorben. Zuvor leitete er ein Restaurant in Split.

Karlheinz Förster (58/34 Einsätze/fünf Tore). Von 1998 bis 2001 war er Manager beim VfB. Seitdem ist er als Spielerberater tätig. Zu seinen Schützlingen gehören Daniel Didavi und Timo Werner.

Markus Elmer (63/36 Einsätze/elf Tore). Er arbeitete in seiner württembergischen Heimat als Trainer im Amateurbereich – unter anderem bei der TSG Backnang, dem FC Tailfingen und dem Heidenheimer SB. Seit 2007 betreut er den SV Sinbronn, mit dem er soeben in die Kreisklasse aufgestiegen ist.

Arno Schäfer (61/27 Einsätze/kein Tor).

Werner Gass (62/zehn Einsätze/kein Tor). Er leitet ein Sportgeschäft in Geislingen.

Das Mittelfeld

Hans Müller (59/31 Einsätze/acht Tore). Von 1999 bis 2001 war er Marketingdirektor beim VfB und von 2011 bis 2015 gehörte er dem Aufsichtsrat des Vereins an. Von diesem Amt trat er zurück.

Erwin Hadewicz (65/28 Einsätze/fünf Tore). Zuerst war er Trainer beim TSV Wassertrüdingen und danach Sportkoordinator beim VfR Aalen. Seit einigen Jahren ist er beim VfB als Scout angestellt.

Helmut Dietterle (65/16 Einsätze/kein Tor). Er war Manager beim VfR Aalen und Trainer bei Normannia Gmünd.

Hermann Ohlicher (66/37 Einsätze/15 Tore). Er arbeitete zuletzt in leitender Funktion bei einer Toto-Lotto-Gesellschaft. Seit einigen Jahren sitzt er im VfB-Ehrenrat, dem er inzwischen vorsteht.

Bernd Schmider (36 Einsätze/fünf Tore). Er verstarb am 17. März 2014 im Alter von 58 Jahren.

Der Angriff

Ottmar Hitzfeld (67/34 Einsätze/22 Tore). Er feierte große Erfolge als Trainer von Borussia Dortmund und dem FC Bayern. Zuletzt betreute er die Schweizer Nationalmannschaft. Jetzt ist er im Ruhestand.

Dieter Hoeneß (63/23 Einsätze/13 Tore). Von 1990 bis 1995 war er Manager beim VfB – und von 1997 bis 2009 besetzte er den gleichen Posten bei Hertha BSC. Anschließend arbeitete er noch beim VfL Wolfsburg. Heute leitet er eine Agentur, die Vereine berät.

Klaus-Dieter Jank (63/34 Einsätze/sechs Tore). Nach seiner Laufbahn arbeitete er bei der Daimler AG.

Harald Beck (59/15 Einsätze/ein Tor).