Im Camp in Südtirol startet Jogi Löw an diesem Mittwoch mit der Fußball-Nationalmannschaft in die WM-Vorbereitung – ohne Stänkerer, Stinkstiefel und Sandro Wagner. Und das ist auch gut so, findet unser Kolumnist Oskar Beck.

Stuttgart - Wie vor jeder WM wächst jetzt wieder schlagartig die Zahl der Ahnungslosen, die sich brennend für Fußball interessieren und neugierig wissen wollen, ob der Ball achteckig und aus Hartholz ist und die Hülle aus Edelstahl.

 

Kürzlich hat mich einer gefragt: Was ist eigentlich Teamgeist?

Am besten erklärt man es, indem man schildert, was den Teamgeist zugrunde richtet, und dass es da zugeht wie auf hoher See. Der Erfolgstrainer Otto Rehhagel, der auf allen Meeren unterwegs war, hat es so gesagt: „Wenn auf einem Schiff jeder macht, was er will, geht es unter.“

Die deutschen Weltmeister segeln heute zwar nicht mit dem Schiff in ihr WM-Vorbereitungslager nach Südtirol, aber Bundestrainer Joachim Löw hat dafür gesorgt, dass alle an Bord stubenrein sind. Keine Stinkstiefel. Keine Stänkerer. Keine Störenfriede.

„Leichtmatrosen“, wird jetzt womöglich Sandro Wagner lästern, denn der Bayern-Stürmer ist nicht mit dabei. Offenbar glaubt Löw, dass man, um Weltmeister zu werden, auch keine Kicker mit großer Klappe braucht – schon den „Geist von Campo Bahia“ hatte er vor vier Jahren in Brasilien mit Spielern entwickelt, die nicht täglich an die große Glocke hängten, dass sie einen Arsch in der Hose haben und zwischen den Beinen drei Eier mit Doppeldotter. Jetzt ist Wagner beleidigt und argwöhnt, dass das DFB-Trainerteam ihn nicht leiden kann, weil er, O-Ton, die Dinge immer so „offen und ehrlich anspricht“. Dabei will der Bundestrainer nicht Wagner ärgern, sondern einfach nur Weltmeister werden.

„Es spielt keine Rolle, ob einer der beste Spieler der Welt ist. Der Club ist immer größer.“

Aber wir wollen jetzt hier nicht klären, was im Kopf von Wagner vorgeht, viel spannender ist die Frage: Was geht im Kopf eines Trainers vor, wenn er an den Teamgeist denkt?

Beleuchten wir es am Beispiel von Sir Alex Ferguson. Der knorrige, Kaugummi kauende Schotte war bei Manchester United ein Vierteljahrhundert lang erfolgreich mit dem Prinzip: „Es spielt keine Rolle, ob einer der beste Spieler der Welt ist. Der Club ist immer größer.“ Mit David Beckham, Ruud van Nistelroy oder Roy Keane hat sich Ferguson deshalb am Ende krachend entzweit.

Umso mehr liebte er Phil Neville. Der war nur eine Fußnote im Zauberensemble, „aber er war einer dieser Spieler“, notierte Ferguson, „zu denen du sagst: Phil, ich möchte, dass du jetzt diesen Berg hochrennst, dann zurückkommst und den Baum hier fällst. Und Phil antwortete: Alles klar, Boss, wo ist die Kettensäge?“ Eine Ratte hätte Neville für den Sieg der Mannschaft gefressen.

Das ist Teamgeist. Aber er ist ständig bedroht von Spielern, die an keinem Spiegel vorbeikommen, ohne sich selbst zu grüßen. Besonders unruhig kann es werden, wenn ein Lautsprecher wie Wagner den Eindruck erweckt, dass viele Mitspieler Duckmäuser sind. Der Bayern-Reservist findet in gewissen Fankreisen erstaunlich viel Anklang. Selbst als er einmal öffentlich erklärte, dass Profis unterbezahlt sind, fanden in einer Umfrage zehn Prozent seinen Auftritt lustig – vermutlich halten dieselben zehn Prozent auch das Rauchen für gesund.

„Hält Wagner die anderen für Vollidioten?“

„Wir wollen doch solche Typen“, hat dieser Tage Ex-Europameister Thomas Helmer in seinem Sport-1-„Doppelpass“ appelliert. Macht schon eine große Gosche heutzutage einen zum Typ? Muss sich einer, um Kult zu werden, nur wie ein Marktschreier zum besten deutschen Stürmer erklären? Oder hat eher Löw recht, wenn er sagt: „Hält Wagner die anderen für Vollidioten?“

Nur eine Frage ist noch heikler: Hätte der Bundestrainer diesen Wagner trotz allem für die WM nominiert, wenn der tatsächlich die Kanone wäre, für die er sich hält?

Es gibt diese Spieler, bei denen man als Trainer nicht päpstlicher ist als der Papst, denken wir an Lukas Podolski. Seine live übertragene Backpfeife gegen Kapitän Ballack mitten in einem Spiel wurde von Löw abgehakt als Kavaliersdelikt. Dagegen war Kevin Kuranyi, der als Tribünenreservist bei Halbzeit eines Länderspiels nach Hause fuhr, als Fahnenflüchtiger sofort erledigt. Auch dem Bremer Max Kruse, einem leidenschaftlichen Anhänger des nächtlichen Glücksspiels, droht unter Löw die Neuverfilmung von „Verdammt in alle Ewigkeit“.

Ein Trainer muss immer abwägen: Ist ein Spieler so gut, dass man die Strapazierfähigkeit des Teamgeists mit ihm testen sollte?

Schon Sepp Herberger, die Alten erinnern sich, hat als Erster Bundestrainer gelegentlich zweckdienlich begnadigt. Dabei war er ein strenger Verfechter der verschworenen Gemeinschaft und der Erfinder des „Kreises“ auf dem Spielfeld, und mit dem „Geist von Spiez“ erzwang er 1954 das WM-Wunder von Bern. Der damalige Finalheld war Helmut („Boss“) Rahn – ein granatenmäßiger Stürmer, aber mit allen Risiken und Nebenwirkungen. Irgendwann stand im Essener Polizeibericht: „Morgens gegen vier Uhr fuhr ein 28-jähriger Handelsvertreter mit seinem Pkw in eine Aufbruchgrube. Bei der Festnahme leistete er Widerstand durch Schläge gegen Brust und Gesicht. Der Widerstand wurde durch Boxhiebe gebrochen, der stark beschädigte Wagen durch einen Kranwagen der Feuerwehr abgeschleppt und sichergestellt, der Führerschein eingezogen und eine Blutprobe entnommen.“

Zu zwei Wochen Gefängnis hat es gereicht. Doch Herberger wusste, dass Rahn nicht nur zur Schandtat in der Sperrstunde, sondern auch zur Heldentat in der Sternstunde fähig war – und der Boss spielte eine weitere tolle WM, ohne den Zusammenhalt zu zerstören.

Joachim Löw hat gut und besonnen nominiert, keine Prolls, keine Protze

Schlimmstenfalls muss beim Teamgeist während einer WM halt nachjustiert werden. „Suppenkasper“ nannte Ersatztorwart Uli Stein anno 1986 den Teamchef Franz Beckenbauer, und es blieb ihm nur der vorzeitige Heimflug. Unter Bundestrainer Berti Vogts brachte Stefan Effenberg aufgrund seines steifen Mittelfingers die WM 1994 nicht ganz zu Ende. Stur fand Berti immer: „Der Star ist die Mannschaft.“

Vermutlich stellte sich Jogi Löw nun neulich die Gewissensfrage: Was mache ich, wenn Wagner bei der WM plötzlich „Der Star bin ich“ sagt? Er hat ihn weggelassen. Und darf sich prompt bestätigt fühlen, denn der Verschmähte hat ihm offen und ehrlich mit dem Holzhammer beigebracht, dass er seine Entscheidung „nicht ernst nimmt“ – und beim Nachtreten auch noch gleich lauthals den Rücktritt erklärt aus einer Mannschaft, der er gar nicht angehört.

Jetzt geht es also nach Südtirol, zum Feinschliff des Teamgeists, der dann bei der WM vollends zur Hochform wie im „Campo Bahia“ auflaufen soll. Joachim Löw hat gut und besonnen nominiert, keine Prolls, keine Protze – und der Einzige, der womöglich „Suppenkasper“ zu ihm gesagt hätte, ist nicht dabei.

Das ist Teamgeist.