Schalkes Bester, der Mittelfeldspieler Leon Goretzka, muss vor dem Spiel beim VfB Stuttgart durchs Fegefeuer, weil er zum FC Bayern wechselt. Fundamentalisten können nicht anders, meint unser Kolumnist Oskar Beck.

Stuttgart - Leon Goretzka geht durch die Hölle. Er ist ein Sünder, er hat beim FC Schalke 04 gegen das sechste Gebot verstoßen: „Du sollst nicht ehebrechen.“

 

Er treibt es mit dem FC Bayern.

Auf Vielweiberei steht in Schalke die Höchststrafe, der Liebesentzug mit verbalen Peitschenhieben. Seit Goretzka gebeichtet hat, dass er in der nächsten Saison in München die höhere Herausforderung sucht, schreien ganze Stoßtrupps von Schalker Fans mit Krampfadern in der Stirn „Judas!“ und pinseln auf militante Plakate, dass dieser gierige Strolch schamlos den Götzen Geld anbetet und seine Wurzeln und Herkunft verrät „für emotionslose Titel und oberflächliche Lackaffen.“

„Sofort verpissen!“, fluchen die Wortführer der Wut. Fundamentalisten machen keine Gefangenen.

Was ist ein Fundamentalist?

Wir haben scharf recherchiert und wissen jetzt: Nicht nur die Weltanschauung und Geisteshaltung der Fußballfanatiker lässt wenig Raum für Friedfertigkeit, kein bisschen barmherziger sind die religiösen und ideologischen Fundamentalisten. Bei den Grünen beispielsweise bleibt im Kalten Krieg zwischen den Fundis und den Realos kein Sakko sauber. Als Beleg fanden wir schockierende alten Fotos von Joschka Fischer, dessen Jacke dem blutroten Farbbeutel-Attentat eines Parteifreunds zum Opfer fiel - dem Außenminister selbst riss das Trommelfell, er musste ins Krankenhaus.

„An Jesus kommt keiner vorbei, außer Libuda“

„Radikalökologen“ nannte die unvergessene Jutta Ditfurth diesen rigorosen Parteiflügel, und die Fundis zeigen den Realos auch heute noch, was eine Harke ist. Fundamentalisten sind kompromisslos, sie halten ihre Überzeugungen und Grundsätze für irrtumslos und sich selbst, auf der religiösen Ebene, schlimmstenfalls für Gotteskrieger.

Wenn Religion im Spiel ist, wird die Sache immer besonders brisant, womit wir wieder in Schalke sind. Als die dortigen Königsblauen im vergangenen Jahrhundert ihren letzten nennenswerten Titel gewannen, den Uefa-Cup, rief ein Fan mit glühenden Backen in ein TV-Mikrofon: „Dat is mein Leben, dat is wie Relijion!“ Einmal stand sogar auf einem Schalker Plakat: „An Jesus kommt keiner vorbei, außer Libuda.“ Stan Libuda, der Dribbelgott. Als er sich zwischendurch kurz zu Borussia Dortmund verdribbelte, ging es ihm wie jetzt Goretzka: Du geldgeiler Sack, schäumten die Fundis, lässt du dich von diesen Ungläubigen zum Verrat verleiten, hast du den Kontakt zum Urzustand dieser Welt verloren?

Von früher hat kürzlich auch Jupp Heynckes erzählt, der Trainer des FC Bayern, nämlich von den 60er Jahren, als er Profi wurde: „Monatsverdienst: 160 Deutsche Mark. Meine Spieler würden, wenn sie den Vertrag heute sehen, einen Lachkrampf bekommen.“

Wehmütig werden die alten Baumwolltrikots vermisst

Die Fundis bekommen einen Weinkrampf. Sie wollen das Rad zurückdrehen in die Hungerlohnzeiten, als gleiche Höhe noch abseits war, die Kicker die Torlatten eigenhändig auf den Platz trugen und der Ball, wenn es schiffte, sich vollsog und so schwer wurde wie ein Medizinball. Wehmütig vermissen sie auch die dicken, gestrickten Stützstrümpfe und die alten Baumwolltrikots, die bei Regen wie nasse Säcke an den Spielern klebten. Und wie sagte Schalkes Rechtsaußen Willi Koslowski, nachdem er im ersten Bundesligaspiel am 24. Augst 1963 gegen den VfB zum 1:0 getroffen hatte: „Wenn man eine Ecke schießen wollte, musste man die Leute erst beiseite schieben. Und als ich einmal einwerfen wollte, saß da ein Opa an der Linie, der mich mit seinem Krückstock am Fuß festhielt.“

Wenn kein Angebot vorliegt, kann keine Jungfrau unkeusch werden

Andere Zeiten, andere Krücken. In diese heile, naturbelassene Welt sehnen sich die Fundis zurück, sie sagen sich: Mit der Steinschleuder fängt die Welt keine Kriege an. Die moderne Welt ist nicht ihre. Ihre Intoleranz gerät nur in Ausnahmefällen ins Wanken, etwa dem, den unser liberaler Ex-Außenminister Klaus Kinkel einmal so beschrieb: „Die Diskussion mit Vegetariern wird anders, sobald sie eine Wurstfabrik geerbt haben.“ Auch die kernigsten Schalker Fundis würden zu Fuß nach München laufen, wenn ihnen der FC Bayern den Job als Stadiongärtner offeriert. Aber im Moment droht da keine Gefahr – denn wenn kein Angebot vorliegt, kann keine Jungfrau unkeusch werden.

Man könnte diesen königsblauen Fundis eine ziemlich einfache Frage stellen: Warum jagt und beschimpft ihr Leon Goretzka als Söldner, tätschelt und umarmt aber eure Legionäre, die sich mit fetten Schecks zu Schalke 04 haben locken lassen? Die Frage ist gut, aber sinnlos, denn man kriegt darauf keine Antwort, und wir verweisen an der Stelle auf das Buch von Hubert Schleichert: „Wie man mit Fundamentalisten diskutiert, ohne den Verstand zu verlieren.“

Man kann mit Fundamentalisten nicht diskutieren. Genausogut könnte man versuchen, eine Dose Bier durch gutes Zureden dazu zu bringen, sich selbst zu öffnen.