Nicolas Giese ist viele Jahre zur See gefahren. Jetzt hat er ein außergewöhnliches Geschäft im Ostfilderner Stadtteil Kemnat eröffnet.

Ostfildern - Als „ungezwungen und unkonventionell“ charakterisiert Nicolas Giese die Atmosphäre in seinem Laden in der Heumadener Straße 1 im Ostfilderner Stadtteil Kemnat. Wer das Geschäft in der Ortsmitte betritt, erfährt schnell, was der 52-Jährige damit meint. Dass man bei ihm Schulhefte, Zeitschriften und Zigaretten kaufen, seinen Lottoschein ab- und sein Paket aufgeben kann, mag an sich nichts Besonderes sein. Dass man in seinem Geschäft, das er Mitte August mitten in Kemnat eröffnet hat, bei einem gemütlichen Plausch auch Café oder ein Bier trinken sowie ein Eis, Kuchen oder einen kleinen Imbiss schnabulieren kann, ist durchaus als ungezwungen zu bezeichnen.

 

Schiffsmodelle und ein Anker

Und die Einrichtung in seinem Bürobedarf-Poststelle-Café-Eisdiele-Geschäft ist in der Tat so unkonventionell wie dessen Name „HamburgSüd Giese Trafik Café“. Weshalb dort Schiffsmodelle und ein Anker von der Decke hängen, der Verkaufstresen einem knallorangefarbenen Schiffscontainer nachempfunden ist und die Toilette einst in einem Fischkutter Dienst tat, erschließt sich dem Erstbesucher schon nach einem kurzen Schnack mit dem gebürtigen Hamburger. Ihn hat es der Liebe wegen ins Schwabenland verschlagen. Vor vier Jahren lernte Nicolas Giese seine Frau Konstanze – sie lebt schon seit vielen Jahren in Kemnat – zufällig in Lübeck kennen. Damals fuhr er noch auf Containerschiffen zur See und beschloss, es wäre an der Zeit, sesshaft zu werden.

Den Anker warf er jedoch nicht in seiner Heimat Hamburg-Altona aus, sondern in jener seiner Frau in Ostfildern-Kemnat. Einiges habe dafür gesprochen: „Hier ist es zwei Grad wärmer, es gibt kaum Wind, das Essen schmeckt besser, die Menschen sind herzlich und die Frauen schöner.“ Nur an den „aggressiven Autoverkehr“ rund um Stuttgart könne er sich nicht gewöhnen.

Ganz habe er sich seinen Traum vom schwäbischen Gastwirt freilich nicht erfüllen können, gibt Giese mit einem Schmunzeln zu. „Ich hätte lieber einen Besen aufgemacht, aber ich besitze keine Streuobstwiese.“ Dafür aber jede Menge Ideen, wie man aus einem alteingesessenen Schreibwarengeschäft einen Ort der Begegnung schafft, „an dem sich die Leute aus Kemnat wohlfühlen“. Zunächst sei er von den Einheimischen misstrauisch beäugt worden, „viele dachten, die Tische und Bänke vor dem Eingang seien Sperrmüll“, berichtet seine Frau Konstanze. Doch inzwischen etabliere sich das „HamburgSüd“ mehr und mehr zu einem „Dorftreffpunkt“ für Jung und Alt.

Giese übernimmt zwei Mitarbeiterinnen

Er habe sich zunächst für den leer stehenden Laden neben seinem jetzigen Geschäft interessiert und sei dadurch mit dem Vorbesitzer Wolfgang Fischer ins Gespräch gekommen. Dieser wollte den seit vielen Jahren von ihm betriebenen Schreibwarenladen ohnehin vor den Sommerferien schließen. Er verkaufte ihn schließlich an Nicolas Giese, der zudem zwei Mitarbeiterinnen von Fischer übernahm.

Die Kemnater können folglich weiterhin ihre Zeitschriften, Schulhefte und Zigaretten vor Ort kaufen. Und sie haben noch ein Café hinzu gewonnen – mit einem einst über die Weltmeere fahrenden Wirt, der so manche selbst erlebte Geschichte auf Lager hat. Die Öffnungszeiten von 8 bis 13 Uhr und von 15 bis 18 Uhr sind beibehalten worden. Am Dienstagnachmittag ist zu, samstags ist von 8 bis 13 Uhr geöffnet. Und am Freitagabend gibt’s den „langen Tresen“, an dem die Gäste bis 22 Uhr verweilen können – „offiziell“, fügt Konstanze Giese lachend an. Ihr Mann ist sowohl mit seinem neuen Job als auch mit seinem Dasein im Schwabenland hoch zufrieden: „Jetzt bin ich hier und bleibe auch hier.“