Der Mensch ist ein mangelhaftes Wesen im Vergleich zu seinen Verwandten im Tierreich. Seine Augen sehen schlechter, seine Ohren hören nur wenig, seine Nase riecht kaum. Wie der Mensch dennoch so erfolgreich wurde, erklärt der renommierte Biologe Edward o. Wilson in seinem neuen Buch.

Stuttgart - Immer tiefer dringt die Wissenschaft in die Vor- und Frühgeschichte des Menschen vor. Neue dem Erdreich entrissene Funde und die Erkenntnisse der Genforschung erlauben es, den Geheimnissen des Homo sapiens genauer auf die Spur zu kommen. Der aufrechte Gang, die Nutzung des Feuers, die Entwicklung der Sprache – das waren in den Jahrmillionen seiner Evolution die entscheidenden Wegmarken. Mit dem Wachstum des Gehirns trennte sich der Mensch von der Tierwelt, obwohl sein Genom eng mit heutigen Primaten verwandt ist.

 

Kein Wunder also, dass Menschenaffen als Hauptattraktion im Zoo gelten. Denn nichts interessiert Menschen mehr als andere Menschen und folglich auch die Tiere, die ihm am nächsten stehen. Mehr noch: fantasiebegabt, wie er ist, stattet er gern solche Geschöpfe mit menschlichen Zügen aus, die ihm ansonsten einigermaßen fremd oder gar unheimlich sind. Der amerikanische Biologe Edward O. Wilson geht in gewisser Hinsicht den umgekehrten Weg. Wie schon in früheren Veröffentlichungen betont er in seinem neuen Buch „Der Sinn des menschlichen Lebens“ den engen, unauflöslichen Zusammenhang von Homo sapiens und Natur. So sehr sich der Mensch mit seinem Ingenium zwar die Erde untertan gemacht hat, so wenig kann er sich davon befreien, dass er selbst nur ein Produkt jener Evolution ist. Und er ist, wie Wilson zeigt, auf vielerlei Weise schlicht ein Mängelwesen, was die ziemlich begrenzten Sinnesorgane belegen – Augen, die schwächer sind als die vieler Tiere; Ohren, die schlechter hören; Nasen, die weniger riechen. Die Welt der Farben, Töne und Düfte ist viel reicher, als unsere Sinne zu erfassen vermögen: Und dennoch, es ist der Mensch, der zur durchsetzungsfähigsten Spezies auf dem Erdball geworden ist.

Überleben und Erfolg

Kommunikation, Arbeitsteilung und „Staatenbildung“ sind dabei nicht einmal seine Erfindung – Wilson verweist auf die hocheffizienten Insektenvölker. Doch deren Überleben und Erfolg beruhen auf den gleichgerichteten Instinkten des Kollektivs, in dem das Individuum nichts, das Ganze alles zählt. Es wird gleichsam ein Programm abgearbeitet, das in jedem Einzelnen wirkt. Darüber ist der denkende und fühlende Mensch hinaus, so sehr er zugleich an das gebunden bleibt, was seine genetische Natur ihm vorgibt. Er ist einerseits Einzelkämpfer, der sich in unaufhebbarer Konkurrenz zu seinen Artgenossen sieht, und andererseits ein zutiefst soziales Wesen, das sich ohne Zugehörigkeit zu einer Gruppe nicht nur verloren fühlte, sondern eben auch verloren wäre.

Experimente haben laut Wilson gezeigt, wie weit dieses Gemeinschaftsgefühl geht: Sogar zu Studienzwecken willkürlich gebildete Gruppen neigen nach einer gewissen Weile dazu, sich von anderen abzugrenzen, sich selbst höhere Kompetenz zuzuweisen und konkurrierende Gruppen entsprechend abzuwerten. Was als fremd gilt, wird zunächst einmal ausgegrenzt. Evolution und Selektion – sie haben jenes komplexe Hirn-Wesen geschaffen, das sich mit den von ihm geschaffenen Instrumenten anschickt, Ursprung und Grenzen des Universums zu erkunden, und das zugleich im Kern gebunden ist an die Gesetze, denen alles Leben unterworfen ist. Wilson geht es in diesem sehr eingängig geschriebenen Band darum, zu einer neuen Einheit von Geistes- und Naturwissenschaft aufzurufen – nicht zuletzt unter Verweis auf die Janusköpfigkeit des Homo sapiens: ausgeklügelte Intelligenz hie und hochentwickelter Primat da, zu Mitgefühl und altruistischer Aufopferung genauso fähig wie zu gnadenlosem Konkurrenzkampf und bestialischer Grausamkeit. Die größte Sorge des renommierten Biologen gilt jedoch der zunehmenden Fähigkeit der Wissenschaft, selbst in das evolutionäre Geschehen einzugreifen.

Wird die Forschung der Versuchung widerstehen, eines Tages das menschliche Genom zum Zwecke der „Optimierung“ zu manipulieren, also gleichsam den Menschen nach Maß zu schaffen? Und wer wäre dann zuständig, jenes Maß zu bestimmen und so zu definieren, was einen „neuen Menschen“ ausmachen soll? In diesen Fragen drückt sich die Weisheit eines bedeutenden Wissenschaftlers aus, der am Ende einer großen Karriere noch einmal über den Sinn des menschlichen Lebens sinniert. Wilson sieht ihn in der in seinen Augen unauflösbaren, der Evolution zu verdankenden Symbiose von Geist und Natur, wie sie sich für ihn im Werden und Sosein des Menschen manifestiert. Daran zu rühren, der Verführung durch den Machbarkeitswahn zu erliegen, das wäre in seinen Augen der größte Frevel. Man könnte auch ein anderes Wort benutzen: der Super-GAU.