Nur sechs Jahre nach seinem Tod wird Papst Johannes Paul II. von seinem Nachfolger seliggesprochen. 200.000 Pilger sind gekommen.

Rom - F acultatem facimus, ut venerabilis Servus Dei Ioannes Paulus II..." Immer, wenn's ganz feierlich wird, greift die Katholische Kirche aufs Latein zurück. Und trotzdem: Die Massen von Pilgern, die so dicht gedrängt wie selten auf dem Petersplatz stehen und die auch auf der mehr als 500 Meter langen Prachtstraße davor kein Durchkommen mehr erlauben, sie verstehen's aufs Wort. Es ist die rituelle Formel, deretwegen viele von ihnen tausende von Kilometern angereist sind: Benedikt XVI. nimmt seinen Vorgänger Johannes Paul II. unter die Seligen auf.

 

Während unsichtbare Hände an der Fassade des Petersdoms den Schleier vom Monumentalfoto des neuen Seligen ziehen, während sie einen schalkhaft lächelnden Papst in seinem computertechnisch dazugezauberten Heiligenglanz enthüllen, da brandet unten gewaltiger Applaus auf. Da werden tausende von Fahnen geschwenkt, die weiß-roten polnischen zumeist, fünf oder sechs deutsche, eine bayerische im weiß-blauen Rautendesign; da steigt an prallen roten Gasballons ein Transparent auf "Deo gratias! - Gott sei Dank!" Da sind auch die "Santo-Subito"-Transparente wieder, die schon am 8. April 2005, bei der Beerdigung Johannes Pauls II., für Furore gesorgt haben. Und da fallen Frauen reihenweise auf die Knie. Ganz still sind sie. Sie klatschen nicht, aber sie lächeln, und Tränen laufen über ihre Wangen.

Nur eines fehlt an diesem Sonntag: der Wind. Damals, bei der Beerdigung, hat er die blutroten Messgewänder der Kardinäle zu dramatischer Bildwirkung aufgebauscht, er hat ihre Käppchen durch die Gegend fliegen lassen - und rauschend in jenem Evangelienbuch geblättert, das sie dem toten Papst auf den Sarg gelegt hatten. Diesmal herrscht Ruhe. Johannes Paul II. liegt während der großen Messe ganz allein im Inneren des Petersdoms, und durchsichtige Kunststoffklammern halten die wertvolle mittelalterliche Bibel auf seinem Sarg fest: Das prächtige Stück verträgt nicht den geringsten Windhauch.

Tausende übernachten auf den Straßen

"Warum wir da sind? Das fragen wir uns auch", scherzen drei junge Frauen aus Mailand, die da einigermaßen zerknautscht in einer Ecke des Petersplatzes liegen. Um überhaupt einen Platz bei der Seligsprechung zu ergattern und um gleich morgens um 5.30 Uhr bei der Öffnung des Areals dabeizusein, haben sie die Nacht auf der Straße zugebracht, "schlafen konnte man das ja nicht nennen".

Viele Tausende, sagen sie, hätten es auch so gemacht - weich gebettet auf Johannes Paul II. selbst: Die römische Lokalzeitung "Il Messaggero" hatte einen dicken, reich bebilderten Sonderdruck zum Fest freundlicherweise schon am Abend verteilt; was als Massenlektüre gemeint war, diente als Schlafunterlage - und die Straßen um den Petersplatz sind an diesem Sonntagmorgen ein Fetzenmeer.

Nein, sagen die jungen Frauen: "Wir mussten einfach kommen. Wir wollten und wir mussten Johannes Paul II. danke sagen. Er ist unser Leben, wir haben keinen anderen Papst gekannt, wir sind mit ihm aufgewachsen, von ihm haben wir unseren Glauben." Und eine sagt: "Beim Weltjugendtag 2000 habe ich ihn aus der Nähe gesehen. Sein gütiger, eindringlicher Blick hat mich nicht mehr losgelassen."

Selig in Rekordzeit, das freut das Volk

 Zwischen Stapeln von Mineralwasserflaschen und den im Kubikmeter-Pack angelieferten Begleittexten zur Liturgie haben sich drei Mexikanerinnen niedergelassen. Seit Ostern sind sie da, um die Seligsprechung mitzufeiern. "Heilig oder nicht", sagt eine, "für mich ist Johannes Paul II. vor allem ein Freund. Wenn ich an ihn denke, oder wenn ich sein Grab besuche - habe ich das Gefühl, er umarmt mich und sagt, es ist alles nicht so schlimm, ich bin ja bei dir." Und nun, sagt die Frau, "sind wir hier, um ihn zu bitten, dass das auch so weitergeht."

Sizilianer, Franzosen, Kroaten, Spanier - wen immer man fragt, sie sprechen von Dankbarkeit, und es ist, als ob alle an diesem Morgen auch ihr eigenes Leben feiern, ihr religiöses zumindest: Angereist ist die "Generation Johannes Paul II.", für die diese Persönlichkeit der Inbegriff von Papst und Kirche schlechthin ist. Immerhin hat er 26 Jahre, fünf Monate und 17 Tage amtiert, und zwischen den Säulen von Berninis Kolonnaden erinnern Riesenplakate die Pilger an die Stationen dieses drittlängsten Pontifikats in zweitausend Jahren Kirchengeschichte.

Die Galerie beginnt am 16. Oktober 1978, als der erste polnische Papst von der Loggia des Petersdoms aus die Italiener gewinnt mit den einnehmenden Sätzen: "Ich komme aus einem fernen Land. Noch spreche ich eure, unsere Sprache nicht gut. Aber wenn ich Fehler mache, dann korrigiert ihr mich."

Gleich folgt diesem Bild die dramatische Schwarzweiß-Aufnahme vom Attentat am 13. Mai 1981, und dann kommen alle möglichen bunten Fotos von den 104 Auslandsreisen des "Eiligen Vaters" - eines mit der Kulisse des Brandenburger Tors -, schließlich das Bild vom 2. April 2005, das einzige mit erklärendem Text: "Der Heilige Vater ist eingetreten ins Licht des Herrn."

Ein historischer Seligsprechungsprozess

Nur sechs Jahre später, nach einem Seligsprechungsprozess von kirchenrechtlich eigentlich nicht zulässiger, historisch nie dagewesener Schnelligkeit, steht Benedikt XVI. unter den mächtigen Pfeilern des Petersdoms. "Wir" verkündet er im alten, rituellen Papststil, "Wir mit unserer apostolischen Autorität erlauben es, dass der verehrungswürdige Diener Gottes Johannes Paul II. selig genannt wird."

Joseph Ratzinger ist nicht nur einer von mindestens einer Million Feiernden, die Johannes Paul II. persönlich erlebt haben - 23 Jahre lang war er als Präfekt der Glaubenskongregation einer seiner beiden führenden Mitarbeiter, und Wojtylas Seligkeit liegt zum Teil an ihm. Denn dafür, dass das gestrenge Seligsprechungsgericht in Johannes Pauls Schriften und Predigten nicht gefunden hat, was der katholischen Lehre widerspräche, ist Ratzinger verantwortlich: Über seinen Schreibtisch sind praktisch alle Wortmeldungen des Papstes gelaufen; sogar nach Johannes Pauls Tod, vor der Archivierung der letzten Schriften, hat Ratzinger sie bis zur Kommasetzung auf Rechtgläubigkeit durchleuchtet und redigiert.

Selig in Rekordzeit, das freut das Volk

Jetzt ist er selbst, Benedikt XVI., der erste Papst der Neuzeit, der seinen unmittelbaren Vorgänger seligspricht. "Cäsarismus, Zustände wie im Alten Rom", schimpft von Deutschland aus Ratzingers theologischer Rivale Hans Küng; der Papst selbst äußert sich in der Predigt nur äußerst knapp, und in kaum erklärender Weise über sein Verhältnis zum neuen Seligen. Er spricht von dessen "spiritueller Tiefe", dem "Reichtum seiner Intuition" und "seinem beispielhaften Beten, das mich immer berührt und erbaut hat." Mehr nicht. Keine konkreten Erlebnisse, keine Episoden aus 23 Jahren Zusammenarbeit.

Solche beispielhaften Geschichten hätte am Vorabend der Seligsprechung jene große Show- und Gebetsnacht liefern sollen, zu der 200.000 Pilger in den römischen Circus Maximus gekommen waren: Zehntausende von Kerzen, säuselnde Musik, Frömmigkeit und Romantik, per Eurovision live übertragen in angeblich hundert Länder. Wahrscheinlich, sagen sich die Journalisten bei dieser Veranstaltung, wäre das sogar in "seinem" Sinn gewesen - im Sinn des Papstes, der die Medien sowohl eingesetzt als auch gefesselt hat wie keiner vor ihm, und das bis zum letzten Atemzug.

Doch da, im Circus Maximus, bleiben ausgerechnet jene Personen ohne wesentliche persönliche Erinnerung, die Wojtylas Bild in der Öffentlichkeit mitgeprägt und - wie man ihnen anlastet - das Leiden seiner letzten Monate "vermarktet" haben: Pressesprecher Joaquin Navarro-Valls und Wojtylas persönlicher Sekretär über vier Jahrzehnte hinweg, Stanislaw Dziwisz. Ein "großer Mann des Gebets" sei Johannes Paul II. gewesen, sagen sie und setzen zu ein paar schlichten moralischen Nutzanwendungen an. Viel mehr kommt nicht.

Der letzte, unfehlbare Beweis

Doch dann tritt Marie Simon-Pierre Normand vor den 200.000 Menschen auf. Die Französin hat etwas erlebt, unter dessen Schwere und Folgen sie menschlich zusammenbrechen könnte, aber nun erzählt die Ordensfrau mit fester Stimme und ohne jede Frömmelei von dem Wunder, das an ihr geschehen ist: "Ich fühlte, dass sich etwas in mir verändert hatte, dass ich geheilt war." Die Fünfzigjährige ist Kronzeugin im Seligsprechungsprozess. Dass sie ein paar Wochen nach Johannes Pauls Tod und nach Gebeten an ihn von einer aggressiven Form der Parkinson-Krankheit genesen ist, buchstäblich über Nacht und medizinisch unerklärlich, das hat der Papst als Wunder anerkannt, als letzten, unfehlbaren Beweis für das himmlische Weiterwirken Johannes Pauls II.

Dessen Seligkeit ruht gewissermaßen auf Marie Simon-Pierres Schultern. Aber sie ist sich ihrer Sache sicher, und die Bescheidenheit, mit der sie auftritt, hinterlässt sogar in der Show des Circus Maximus einen kurzen Moment der Stille.

Beim großen Gottesdienst am Sonntag tritt Marie Simon-Pierre nochmals auf: Feierlich trägt sie jene silberne Ölbaumskulptur zum Altar, in die - zur Reliquienverehrung - eine Ampulle mit dem Blut Johannes Pauls II. eingearbeitet ist. Da ringt die Ordensfrau dann doch mit der Fassung. Der Papst, darauf hat sie im Circus Maximus schon hingewiesen, ist schließlich an jener Krankheit gestorben, von der die sich selbst geheilt sieht. Am Ende der Messe gibt's kein Halten mehr. Da wird der Petersdom geöffnet, und die Pilger strömen hinein, um den Sarg des nun Seligen zu sehen. Die ganze Nacht hindurch, so hat es der Vatikan angekündigt, bleibt "bei Bedarf" die Kirche geöffnet.

Vor der Lateranbasilika, der zweiten großen Papstkirche in Rom, beginnen derweil gigantische Lautsprecheranlagen zu wummern. Da startet am Sonntagnachmittag die zweite große Liturgie dieses römischen 1. Mai, eine ganz weltliche allerdings: das traditionelle Pop- und Rock-Konzert der italienischen Gewerkschaften für die Arbeiterklasse. Die Veranstaltung hat Kultstatus, 500.000 Besucher werden erwartet. Auch auf dem Petersplatz können sich etliche junge Papstpilger durchaus vorstellen, nach dem Defilee am Sarg "zum Tanzen noch kurz mal rüber" zu gehen.