Im Flugzeug lässt sich für ein paar Sekunden Schwerelosigkeit herstellen. Das nutzen Forscher aus Stuttgart und Tübingen für ihre Experimente. Auch wenn es leicht aussieht – diese Arbeit geht auf die Kondition.

Stuttgart - Mit 825 Kilometern in der Stunde zieht Stéphane Pichene den betagten Airbus 300 hoch. Tausende dieser Achterbahnmanöver hat die Maschine schon absolviert. Im kommenden Jahr bekommt sie einen Nachfolger: die alte Kanzlerinnenmaschine von Angela Merkel. „Thirty“, ruft der Flugkapitän durch den Kabinenfunk. Das Flugzeug steht nun mit 30 Grad im Anstieg. „Forty“ folgt nach wenigen Sekunden. Bei rund 47 Grad ist er am Ziel, ruft „Injection“, drosselt die Triebwerke und lässt die Maschine fast antriebslos in den Himmel schießen.

 

Darauf haben die rund 40 Männer und Frauen in blauen Overalls gewartet. Sie schnallen sich ab und schweben zu ihren Experimenten. Sie haben 22 Sekunden Zeit, denn so lange befindet sich der Airbus in der Schwerelosigkeit. Monatelang haben sich die zwölf Forschergruppen – darunter drei aus Stuttgart und Tübingen (siehe 2. Seite) – auf diesen Moment vorbereitet. Sie wollen herausfinden, wie Pflanzenzellen auf die Schwerelosigkeit reagieren, wie sich Materialeigenschaften und die menschliche Reaktionsfähigkeit ändern.

Der Airbus ist dazu im Inneren komplett umgebaut: In der Passagierkabine erinnern noch die Sitzreihen für vielleicht 60 Personen an ein konventionelles Linienflugzeug. Die Mitte ist mit Fangnetzen abgetrennt und komplett mit weißen Turnmatten ausgekleidet, damit sich niemand verletzt.

Schwerstarbeit in der Schwerelosigkeit

In der Zwischenzeit leistet Flugkapitän Pichene Schwerstarbeit. Der Airbus folgt nun der Flugbahn einer Wurfparabel, genauso wie ein Stein, den man schräg hoch in den Himmel wirft. Pichene muss das Flugzeug stabil halten. Er hält mit seinem Steuerknüppel akribisch den Flugwinkel auf Kurs, sein Kopilot kontrolliert die Schräglage, den „Roll“. Zwei Flugingenieure sitzen an der Triebwerkssteuerung und kompensieren mit leichtem Vortrieb die Verzögerung durch den Luftwiderstand.

Im höchsten Punkt der Parabel bei 8500 Metern senkt das Flugzeug seine Nase und stürzt auf die Küstenlinie zu. Jetzt meldet sich Pichene wieder über Sprechfunk: „Twenty“ – das Flugzeug hat schon eine Abwärtsneigung von 20 Grad. „Thirty“ – den Piloten bietet sich ein fantastisches Bild: die Biskaya, die Pyrenäen, das Mittelmeer, bis Korsika. „Pull out“ – die Piloten fangen die Maschine bei einer Flughöhe von 7600 Metern ab. Jetzt herrscht für kurze Zeit die doppelte Erdbeschleunigung in der Kabine. Wer nicht aufpasst, fällt auf den Boden.

„Jetzt den Kopf nicht bewegen“, ruft Ulrike Friedrich in Erinnerung. Wer in der Phase erhöhter Beschleunigung den Kopf bewegt, dem wird mit großer Wahrscheinlichkeit schlecht, hat die für die Parabelflüge Verantwortliche beim Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) vorab eindringlich erklärt. Dann bliebe nur, die Kotztüte aus dem Overall fischen, sich in den Sitz werfen und die nächsten Parabeln zu überstehen suchen.

Nur beim Parabelflug können Forscher selbst schrauben

Die Schwerkraft ist eine Kraft, die sich nicht ausschalten lässt, doch man kann sie austricksen. Vier Möglichkeiten stehen den Forschern zur Verfügung: der Fallturm, der Parabelflug, die Rakete und die Internationale Raumstation (ISS) – in dieser Reihenfolge nehmen sowohl Experimentierzeit als auch die Kosten zu. Beim Fallturm in Bremen rast beispielsweise eine Experimentierkapsel aus einer Höhe von 110 Metern in 4,7 Sekunden in ein Schaumkugelbett. Und genau diese 4,7 Sekunden herrscht Schwerelosigkeit. Beim Parabelflug sind das 22 Sekunden, bei der Forschungsrakete schon etliche Minuten.

„Der Parabelflug hat dabei den Charme, dass nur dort die Forscher selbst an ihren Experimenten hantieren können“, erklärt der Biologe Markus Braun, der beim DLR das Forschungsprogramm zu den Parabelflügen koordiniert. Auf der ISS spulen Astronauten ein vorgegebenes Programm ab, bei Fallturm und Forschungsrakete kann ein Forscher nur hoffen, dass alles gut gelaufen ist. Zwischen den Parabeln haben die Wissenschaftler immer einige Minuten Zeit, an ihren Apparaturen zu schrauben.

Rund 900 000 Euro kostet eine Parabelflugkampagne mit drei Flugtagen und jeweils 31 Parabeln. Knapp sechs Kampagnen fliegt der französische Betreiber Novespace im Jahr, jeweils zwei für die deutsche (DLR), die französische (CNES) und die europäische Raumfahrtagentur (Esa). Startpunkt ist meist der Flughafen im französischen Bordeaux. Die jüngste Kampagne, die 24. für das DLR, führte den Airbus in Fluggebiete über den Golf von Biskaya und das Mittelmeer bis kurz vor Korsika. Kapitän Pichene entscheidet erst zwei Stunden vor Abflug, in welche Sperrzone es geht. Er braucht ein von Wind und Wetter möglichst unbehelligtes Gebiet. Turbulenzen in der Luft verursachen Vibrationen im Flugzeug, was die Experimente stören kann.

Nach 500 überstandenen Parabeln gibt es einen „Orden“

Die Schwerelosigkeit ist nie perfekt; sie liegt bei wenigen Hundertstel der Erdschwere auf dem Erdboden. „Doch für uns Forscher reicht das allemal“, sagt Rüdiger Hampp, Biologe an der Uni Tübingen. „Natürlich müssen die Experimente so angelegt sein, dass sich in den 22 Sekunden des Parabelflugs auch wirklich etwas tut“, sagt Wolfgang Hanke von der Uni Hohenheim.

Das Experimentieren in der Schwerelosigkeit des Parabelflugs ist harte Arbeit, die Flüge gehen auf die Kondition. Doch die Forscher lieben es. Nicht nur haben sie Aussicht auf exklusive Forschung; die Schwerelosigkeit ist ihnen auch eine ultimative Lebenserfahrung, ein Kick, den es bei keiner Achterbahnfahrt und keinem Bungeesprung gibt.

Und so wundert es nicht, dass sich überwiegend junge Forscher um ein Flugticket bemühen. Die Plätze im Airbus sind beschränkt, und eine Hälfte des Forscherteams muss am Boden bleiben. „Ich habe schon aufgehört meine Flüge zu zählen“, erklärt Hanke, der als alter Hase am Boden bleibt. Einige Hundert Parabeln dürften es für ihn schon gewesen sein. Ab 500 Parabeln verteilt der Betreiber Novespace eine Art Orden. Alle 38 Erstflieger bekommen diesmal von DLR-Organisatorin Friedrich einen Ansteckbutton. Sie freuen sich, als wären sie in den exklusiven Club der Astronauten aufgenommen worden.

Die Experimente der Teams aus Stuttgart und Tübingen

Medikamente
Wirken Arzneien im Weltraum anders? Das ist nicht zuletzt eine Frage der Zellwände: Sie schleusen Substanzen hinein und halten Fremdstoffe draußen. Wenn sich diese Membranen unter Schwerelosigkeit verändern, so auch die Medikamentenwirkung – das ist jedenfalls die Arbeitshypothese des Physikers und Membranphysiologen Wolfgang Hanke von der Universität Hohenheim. „Narkotika wirken im Weltraum besser, sie müssten dort also niedriger dosiert werden“, sagt er. Stefan Kaltenbach und Michaela Sieber legen mit der Pipette vor den Parabeln eine neue Membranschicht in die Apparatur und messen die elektrochemischen Parameter, darunter beispielsweise die Beweglichkeit der Fettmoleküle in der Membran. Einem vorläufigen Eindruck nach ist die Membranreaktion auf die Schwerelosigkeit messbar, aber klein.

Sauerstoffproduktion
Für einen bemannten Weltraumflug zum Mars gibt es zwei Möglichkeiten: Die Astronauten nehmen alles an Nahrung und Atemluft mit, oder sie erzeugen es vor Ort. Forscher um Stefan Belz und Jens Bretschneider von der Universität Stuttgart untersuchen daher Algenkulturen, die Proteine, Kohlenhydrate und Fette liefern und zusätzlich das vom Menschen ausgeatmete Kohlendioxid verstoffwechseln und dafür Sauerstoff abgeben. Kritisch ist das Bauteil, in dem die Algen mit Licht zur Fotosynthese angeregt werden. Wie bringt man das Licht optimal an die Algen? Strömungsforscher von der ETH Zürich haben dazu verschiedene Geometrien entworfen. Bei guten Ergebnissen könnten die Geräte vielleicht bald auf die Raumstation ISS kommen.

Pflanzen
Hitze, Dürre, Licht, Keime, Fressfeinde – beinahe alles setzt eine Pflanze unter Stress. Sie kann nicht weglaufen, sondern nur ihren Stoffwechsel ändern: „Abwehrmechanismen müssen hochgefahren werden“, sagt Rüdiger Hampp, Zellbiologe von der Universität Tübingen. Doch wie reagiert eine Pflanzenzelle auf die Schwerelosigkeit, eine Situation, die die Evolution nicht vorsehen konnte? „Sie reagiert auf die Schwerkraft wie auf einen Pathogenbefall“, erklärt Hampp. Sie produziert Botenstoffe, die normalerweise der Abwehr von Schädlingen dienen. Die Ackerschmalwand aktiviert zum Beispiel mehr als 300 Gene – in wenigen Sekunden. „Und ich dachte, das dauert Stunden“, sagt Hampp. Während des Parabelflugs friert seine Mitarbeiterin Margret Ecke die Pflanzenproben in verschiedenen Stadien ein, um sie später im Labor zu untersuchen.