Paul Kalkbrenner ist seit seinem Durchbruch mit  "Berlin Calling" Deutschlands populärster Elektromusiker. Warum, zeigt er auch in Stuttgart.

Berlin - Es gibt da diese Filmszene: Paul Kalkbrenner, grauer Kapuzenpulli, schlaksig, den Schädel kahl rasiert, geht im Backstageraum nervös auf und ab. Es ist der 3. April 2010, seine Show in der Arena in Berlin-Treptow soll gleich beginnen. "Wir gucken jetzt mal, ob's draußen schon voll ist", sagt er und fummelt an der Wasserflasche. 9000 Leute passen in die Halle - das ist viel. Und Kalkbrenner hat Angst, dass weniger kommen werden. "Es ist in einer Stunde nicht voll", sagt er, unsicher, kopfschüttelnd. "Doch", erwidert sein Manager, "bis elf sind alle drin."

 

An diesem Abend spielt Paul Kalkbrenner tatsächlich vor 9000 Leuten, und als er auf der Bühne erscheint, feiern sie ihn und schreien "Paule, Paule". Am Samstagabend klappt der Mann sein Laptop in der Schleyerhalle auf, und wieder wird es voll werden. So wie in der Szene aus der Doku "2010 - ALive Documentary" oder auf der ausverkauften Berliner Wuhlheide Anfang Juni, wo er zweimal nacheinander vor je 17.000 Menschen aufgetreten ist.

Normalerweise füllt ein einzelner DJ keine Hallen, höchstens auf einem Rave, also im Rudel, wenn jede Stunde ein anderer dran ist. Aber dieser Kalkbrenner ist wie eine Stadionband. Ein Star. Er hat die anderen abgehängt: Paul von Dyk, Sven Väth, Hell, die alle immer noch irgendwie für ein elitäres Publikum spielen, während Kalkbrenner die Masse bedient.

Der Typ ist sich für wenig zu schade

Warum er so populär ist, erklärt sich als erstes durch die Art seiner Musik. Trotz ihrer Energie fühlt sie sich seltsam entspannt an, zum Wegschweben. Sie ist nicht hart und zappelig, sondern fließt wie ein leichter, melodiöser Soundteppich. Typisch und doch ganz anders ist "Sky and Sand", Kalkbrenners berühmtestes Stück: Es fährt zur magischen Bassdrum einen Text mit der schönen Zeile "Wir bauen Schlösser in den Himmel und in den Sand" auf, gesungen von einer sanft verzerrten Stimme. Sie gehört seinem Bruder Fritz, der sein Geld ebenfalls mit elektronischer Musik verdient.

Beide sind keine DJs mehr im klassischen Sinn, sondern Live-Acts. Das heißt, sie spulen während eines Auftritts keine fertigen Tracks ab, sondern mischen sie live am Computer. Wie Paul Kalkbrenners Lieder heißen, ist dabei völlig egal. Fast alle seiner neuen Stücke tragen dadaistische Namen, zum Beispiel "Kleines Bubu", "Der Breuzen" oder "Schmökelung", was nicht mehr aussagt, als dass er sich selbst nicht arg wichtig nimmt.

Überhaupt: der Typ ist sich für wenig zu schade, das gefällt. Vor einem Auftritt in der Türkei reißt er am Eingang persönlich Karten ab, auf dem Bühnenboden schreibt er kniend Autogramme auf Fußballtrikots, nach drei, vier Stunden Gig fegt er den Fußboden, und anschließend ist er "fix und fertig". Sehr authentisch. Auch seine Accessoires sind das: goldene Sneakers jeden Tag, irgendein Trikot oder Dreistreifenshirt, Ray-Ban-Sonnenbrille, Zigarette, ein silberner Rollkoffer aus Aluminium, ein mit bunten Aufklebern übersäter Laptop. Eigentlich ganz so, wie man sich einen Elektromusiker vorstellt.


Doch dann gerät das Bild ein bisschen ins Wanken, wenn nämlich der 34-jährige Großverdiener in Interviews erzählt, dass Besitz ihn beunruhige und er deshalb nur so viel habe, wie in ein Taxi passe. Und dass sein Lieblingshotel kein kühler Designtempel sei, sondern ein historisches Haus mit Holz, Vorhängen und schweren Teppichen. 

Paul Kalkbrenner, 1977 in Leipzig geboren und in Ostberlin aufgewachsen, kommt nach dem Mauerfall mit Techno in Berührung, dem Sound der neunziger Jahre. Im Jugendclub legt er Platten auf, später verfällt er dem legendären Club E-Werk, den Bässen und Klängen, die dort wummern und mitziehen. Die Schule bricht er ab, er arbeitet als Cutter beim Fernsehen und beginnt, seine eigenen Tracks zu produzieren. Jahrelang ist er einer von vielen Underground-DJs, denen Berlin seinen Ruf als Technohauptstadt verdankt. Dann kommt "Berlin Calling", die Hauptrolle in einem Spielfilm. Im Kino.

Paul Kalkbrenner ist plötzlich ein Name. Was Fluch und Segen zugleich bedeutet, denn der Mann steht nun zwischen dem Anspruch, sich künstlerisch zu entwickeln, und der Aufgabe, dem Geschmack seiner auch international immer größer werdenden Fangemeinde gerecht zu werden. Er entscheidet sich für das Volk - und geht selbstbewusst damit um. Er will Musik nicht für ein paar "Szenespinner" machen, sondern eine Art Technomainstream für den, wie er sagt, "tragenden Teil der Gesellschaft", für die, die um drei Uhr schon nach Hause gehen.

 "Kaputtheit, Unfertigkeit, Schäbigkeit"

Ja, und da ist dann noch der Berlin-Faktor. Ein Kritiker des Magazins "Musikexpress" erklärt sich Paul Kalkbrenners enormen Erfolg mit dem Bild des Sehnsuchtsorts Berlin, das er mit seinem Sound in all seiner "Kaputtheit, Unfertigkeit, Schäbigkeit" zeichne. Das stimmt. Berlin ist nicht schön, aber cool. Und Kalkbrenner ist immer irgendwie Berlin.

In den vergangenen zwei oder drei Jahren hat man Herrn Kalkbrenner viele Namen verpasst. Filmstar, Rekordbrecher, Hallenfüller, Ikone einer Generation, einer der größten deutschen Popstars - und: Deutschlands unbekanntester Superstar. Letzteres gilt sicher nicht mehr.


Berlin Calling Der in Stuttgart geborene Regisseur Hannes Stöhr hat für seinen Film über das stressige Leben eines Technomusikers eigentlich nur einen Szenekenner als Berater gesucht - und seinen Hauptdarsteller gefunden. Paul Kalkbrenner spielt in "Berlin Calling" den Jetset-DJ Ickarus, der zu viel feiert, zu viel Drogen nimmt und in der Psychiatrie landet. 2008 kommt die Tragikomödie ins Kino - und macht Kalkbrenner zum Star. Das Lied "Sky and Sand" mit dem untypischen Gesangspart aus dem Soundtrack wird zur Hymne seiner Fans.

Live Documentary In Ickarus steckt zwar ein bisschen Paul Kalkbrenner, aber es ist eine Kunstfigur - was gern vergessen wird. Zwei Jahre nach dem Spielfilm erzählt Kalkbrenner deshalb, wie er wirklich lebt und arbeitet: Für die DVD "2010 - A Live Documentary" begleitet ihn die Kamera zu gut einem Dutzend Shows vom Indigo-Club in Istanbul bis zum Melt-Festival in Gräfen-hainichen. Die Doku besteht aus Interviews, Backstageszenen und Livemitschnitten, sogar seine Eltern kommen vor.

Stuttgart Nach seinem Auftritt 2009 im kleinen Romy S. füllt Kalkbrenner jetzt die Schleyerhalle. Für den Live-Act seiner "Icke wieder"-Tour am Samstag gibt es noch Tickets. Kalkbrenners Bruder Fritz spielt um 20 Uhr als Warm-up. Pauls Show geht bis 0.30 Uhr, unter 18-Jährige müssen die Halle bis Mitternacht verlassen. Die letzte Bahn, die U11, fährt um 0.45 Uhr am Wasen.