Paul McCartney legt an diesem Freitag sein neues Album „Egypt Station“ vor, ein Spiegelbild gereifter Erfahrung.

Kultur: Jan Ulrich Welke (juw)

Stuttgart - Paul McCartney zählt zu jener raren Spezies von Menschen, bei denen man ohne jeden Anflug falsch verstandener Lobhudelei sagen kann, dass sie im Leben wirklich ausnahmslos alles erreicht haben. Der Brite war Gründungsmitglied und prägender Musiker der bedeutendsten Band aller Zeiten. Sein kulturhistorischer Einfluss ist unermesslich. Er hat Werke für die Ewigkeit hinterlassen, 18 Grammys eingefahren und rund achthundert Millionen Alben verkauft. Der Bassist ist damit nebenbei – laut den Ranglisten des Wirtschaftsmagazin „Forbes“ – mit einem Vermögen von deutlich über einer Milliarde Dollar zum reichsten Musiker aller Zeiten aufgestiegen. Der mittlerweile 76 Jahre alte Philanthrop und Vegetarier, der ein weitgehend skandalfreies und unexaltiertes Leben führt, ist ein weltweit respektierter und bewunderter Künstler.

 

Was kann ein solcher Mensch seiner künstlerischen Vita noch hinzufügen? Neue Pfade eher nicht, die hat er ohnehin bereits zu Zeiten der Beatles – erinnert sei allein an das Lied „Helter Skelter“ – und darüber hinaus reichlichst beschritten: mit den Wings, in Kollaborationen mit unzähligen anderen Musikern und Formationen, mit klassischen Kompositionen sowie vielem anderen mehr. Und natürlich mit jeder Menge in einer Zeitspanne von bald fünfzig Jahren (!) veröffentlichten Soloalben.

Fünfzig Jahre, bald fünfzig Alben

An diesem Freitag nun erscheint, fünf Jahre nach dem letzten Album „New“, sein neues Werk „Egypt Station“. Da darf natürlich trotz oder vielleicht gerade angesichts all seiner Verdienste die Frage aufgeworfen werden, warum Paul McCartney nach all den Jahren und nunmehr insgesamt 45 Alben seit der Trennung der Beatles noch einmal ins Studio gegangen ist. Materielle Gründe scheiden aus, einen Ruf hat er ebensowenig zu verteidigen, und mit diesem Album den Grundstock für eine weitere Tournee zu legen hat er schon gar nicht nötig. Der drängende Wunsch, sich zu den Zeitläuften zu äußern – was nicht nur angesichts Brexit & Co verständlich wäre – treibt ihn schließlich ebenfalls nicht; ein sonderlich politischer Künstler war Paul McCartney noch nie, aber dazu besteht ja bekanntlich auch keine Verpflichtung.

Die Antwort gibt McCartney gleich selbst im – nach einem kleinen Instrumentalvorspiel – ersten Stück des Albums, der Singleauskoppelung „I don’t know“. Allerdings nicht im Sinne des unentschiedenen Namens dieses Songs, sondern ganz grundsätzlich. „I’ve got so many Lessons to learn“ singt er darin, der mehr als gestandene Popmusiker möchte auch nach all den Jahren noch wissbegierig bleiben. Und das tut er auch. Als Produzenten hat er sich daher Greg Kurstin ausgesucht, der von den Foo Fighters bis zu Adele schon die unterschiedlichsten Künstler aus den verschiedensten Genres betreut hat. Schroffe musikalische Gegenentwürfe sind von diesem Produzenten trotzdem nicht zu erwarten, sie würde aber ja auch niemand von seinem Schützling Paul McCartney erwarten.

Dennoch überrascht, wie vielfältig die 16 Titel dieses Albums gestaltet sind, das McCartney bewusst – so zitiert ihn die Plattenfirma – als ein in einem Rutsch durchhörbares Album begriffen haben will. Da gibt es etwa das rockige, fast an die Rolling Stones erinnernde „Who cares“, das vollmundige „Fuh you“, das rhythmisch hübsch vertrackte und originell instrumentierte „Back in Brazil“ oder das eruptive Lied „Caesar Rock“, bei dessen Gitarrenmelodien man unweigerlich an den Klassiker „Suicide blonde“ von Inxs denken muss.

Alte Besen kehren gut

Paul McCartney bleibt sich und seiner Musik jedoch auf eine beseelende Weise treu. Man hört die kompositorische Güte, die jeder der Songs ausstrahlt, die künstlerische Klasse dieses Elder Statesman der Popmusik, die er in den milden und warmen Gesang dieser vorzüglich eingespielten Produktion legt. Und die Beatles-Wurzeln, die er auf diesem bis auf zwei Ausnahmen komplett selbst komponierten Album weder abstreifen kann noch will, sei es in der Pianoballade „I don’t know“ oder der Sonnenschein-im-Herzen-Nummer „Get started“.

Sinnbildlich stehen dafür die beiden Stücke „Despite repeated Warnings“ und „Hunt you down/naked/C-Link“ in der zweiten Hälfte des Albums. Es sind die beiden längsten Lieder, in ihnen kondensiert die Vielfältigkeit des Beatles’schen Schaffens. Keck aufbrausende Gitarren wie in „Back in the USSR“, elegante Wechsel zu harmonietrunkenen Klavierpassagen wie in „Hey Jude“, schillernde Melodieführung wie in „Eleanore Rigby“ – alles packt McCartney in jeden dieser beiden große Klasse ausstrahlenden Sechsminüter.

Erinnerungen werden wach

Er selbst sei, lässt Sir Paul wissen, zu „Egypt Station“ durch die Vorbereitungen zur 50-Jahre-Jubiläumsausgabe des „Sgt. Peppers“-Albums inspiriert worden, eines der ersten Konzeptalben der Popmusikgeschichte. Ein stringentes Konzept in Form eines durchgängigen roten Fadens, einer überwölbenden Idee findet sich auf „Egypt Station“ zwar nicht, dennoch nimmt man ihm sofort ab, dass hier vieles an musikalischen Ideen aus der Erinnerung gekramt wurde und nun wieder aufblitzt, was schon damals dieses Album groß gemacht hat. Songs mit bleibenden Hit- oder gar Klassikerpotenzial finden sich auf „Egypt Station“ übrigens auch nicht, aber wenn es einer nicht nötig hat, noch Kracher abzuliefern, dann ist es gewiss Paul McCartney.

Und so ist „Egypt Station“ in erster Linie ein mal wieder souveräner Ausweis des überragenden musikalischen Könnens dieses Künstlers, ein – wie von ihm versprochen – in einem Guss durchhörbares Popalbum, das aber hinreichend stilistische Vielfalt aufweist, um nie zu gleichförmig zu klingen. Wenn Paul McCartney von sich sagt, er habe noch so viel zu lernen, ist das einerseits natürlich Tiefstapelei. Anderseits mag es auch altersweise Erkenntnis eines Mannes sein, der hier eine in jeder Hinsicht reife Leistung bietet.