Ein Arzneimittelschrank, der an die Medikamenteneinnahme erinnert und ein Soundsystem, das ältere Menschen rund um die Uhr überwacht: Bedeutet Altwerden in Zukunft, sich auf zunehmende Maschinenhilfe und „dezente Kontrolle“ vorzubereiten?

Stuttgart - Hier geht es in Zukunft um die Zukunft. Das StZ-Hausorakel Peter Glaser befragt einmal die Woche die Kristallkugel nach dem, was morgen oder übermorgen sein wird – und manchmal auch nach der Zukunft von gestern. Dazu als Bonus: der Tweet der Woche!

 

Eines kann man für die Zukunft immer schon mit hundertprozentiger Gewissheit voraussagen: dass man dann älter sein wird. Vielleicht auch schon alt. Der Anstieg der allgemeinen Lebenserwartung und die Alterung geburtenstarker Jahrgänge führen nicht nur in Deutschland zu einem demografischen Wandel. Im Jahr 2035 werden mehr als die Hälfte der Menschen im Lande über 50, jeder Dritte bereits älter als 60 sein. Und immer mehr Menschen brauchen Hilfe oder sind pflegebedürftig.

Um bereits heute vakanter Zeitnot und einer Überforderung des Pflegepersonals entgegenzuwirken, werden deshalb zunehmend sensor- und computergestützte Health & Care-Systeme entwickelt und erprobt. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung förderte unter dem etwas glitschigen Kürzel AAL („Altersgerechte Assistenzsysteme für ein gesundes und unabhängiges Leben“) allein zwischen 2009 und 2012 Projekte mit einem Subventionsvolumen von 45 Millionen Euro. Gefördert werden der Aufbau regionaler Netzwerke aus Anbietern von Gesamtsystemen, Unternehmen, Dienstleistern, Wohnungswirtschaft, Ärzten, Krankenkassen und nicht zuletzt die Nutzer selbst.

Auch die wirtschaftsaffine Forschung hat den künftigen Milliardenmarkt längst im Visier. Im Fraunhofer inHaus-Zentrum in Duisburg, einer „Innovationswerkstatt marktnaher Forschung für intelligente Raum- und Gebäudesysteme“ etwa hat eine Gruppe unter Leitung von Gudrun Stockmanns inBath entwickelt, eine intelligente, assistierende Bad-Umgebung für Senioren und behinderte Menschen.

Ein intelligentes Badezimmer

In dem elektronisch aufgerüsteten, barrierefreien Badezimmer weiß der Fußboden, wie schwer eine Person ist, die ihn betritt und „stellt individuell die Höhe des Toilettensitzes ein. ... Speziellen Nutzen soll das inBath für Opa bringen, der nach einem Schlaganfall leicht desorientiert ist. Er vergisst öfter, sich zu rasieren und regelmäßig seine Medikamente zu nehmen. Nun hilft ihm der Spiegel über dem Waschbecken. Leuchtende Piktogramme zeigen an, was als nächstes zu tun ist: waschen, zähneputzen, rasieren, kämmen. Die Tage, an denen geduscht wird, sind gespeichert. Wenn der Bewohner seine Pillen nehmen muß, erinnert ihn eine Stimme aus einem Lautsprecher daran. Alternativ kann auch der Arzneimittelschrank aufleuchten und ihn ansprechen.“

Da sich Privathaushalte einen solchen Aufwand vorerst kaum werden leisten können, werden Pflegeeinrichtungen zu den Early Adopters gehören. „Sensorgestützte Assistenzsysteme bieten mehr Komfort und Sicherheit für Patienten, indem sie es ermöglichen, die Umgebung an spezielle Patienten-Bedürfnisse auszurichten“, verheißen die E-Bad-Pioniere, “Derartige Funktionen verschaffen dem Personal mehr Zeit, die es für die Pflege der Kranken aufwenden kann.“ Möglicherweise werden aber auch die gesellschaftlichen Gefahren der Automatisierung zutage treten. „Häufig wird ja argumentiert“, gibt etwa der Risikoforscher Ortwin Renn zu bedenken, „dass das Pflegepersonal mehr Zeit zum Vorlesen und Händchenhalten hätte, wenn andere notwendige Arbeiten von Robotern übernommen würden. Nur wird das in einer ökonomisierten Welt so nicht passieren. Da werden dann Pfleger entlassen.“

Sensoren an Türen, Toilette, Hähnen, Lichtschaltern und Duschvorhang zeichnen alle Aktivitäten elektronisch auf. „Das ist wichtig“, so die Fraunhofer-Forscher, „wenn Opa eines Tages professionelle Hilfe brauchen sollte. Ärzte und Pflegepersonal können am Computer ablesen, welche elektronischen Pflegefunktionen benutzt wurden, wie oft der ältere Mensch das Bad und die Toilette benutzt hat und ob er hingefallen ist.“ Notfalls gibt der Computer automatisch Alarm. „Beobachtung und Unterstützung der Bewohner, ohne sie zu stören“, ist die lautere Absicht.

Totale Überwachung oder Sicherheit für Senioren?

Die dezente Totalüberwachung wird ambivalent gesehen. Allein zuhause und dennoch rund um die Uhr umsorgt, sagen die einen. Für andere ist es eine Art Bad Orwell. In dem Projekt AAL@home etwa soll ein Assistenzsystem die Sicherheit und damit Unabhängigkeit älterer, allein lebender Menschen durch ein engmaschiges Versorgungsnetz aus Angehörigen, Pflegedienst, Hausarzt und Klinik gewährleisten. „Alle Beteiligten“, heißt es dazu, „haben ständig einen Einblick, wie es den alten Menschen gerade geht und ob Hilfe erforderlich ist.“ Moderne UWB-Sensoren überprüfen kontinuierlich den Gesundheitszustand der Senioren und können neben Vitaldaten wie Atem- oder Herzfrequenz auch die aktuelle Position in der Wohnung bestimmen – beispielsweise, um festzustellen, ob der alte Mensch wie gewohnt aufgestanden ist. Die Messgeräte werden in den Wänden installiert. Auch aus der Haustechnik werden Informationen über die Aktivitäten abgeleitet, etwa die Nutzung der Lichtschalter. Die Daten ergeben ein Abbild der Lebenssituation, das von einem verteilten, lernfähigen Assistenzsystem „zusammengefasst und interpretiert wird“ zu einem „aktuellen Lagebericht“.

Solche Assistenzsysteme werden skeptisch betrachtet. Die Sorge vor einem Eingriff in die Privatsphäre durch Gesundheits- und Verhaltensüberwachung oder Kontrollverlust durch komplexe, nicht nachvollziehbare technische Systeme sind hohe Akzeptanzbarrieren. „Das stellt die Politik, die Wirtschaft und die Wissenschaft - die große Hoffnungen in AAL setzen - vor ein Dilemma“, wie Sören Theussig auf nullbarriere.de, einer Plattform für barrierefreie Architektur, schreibt: “Die besten technischen Innovationen sind nicht viel wert, wenn sie von den potenziellen Nutzern nicht angenommen, nicht akzeptiert werden.“

Des Problems hat man sich auch bei dem japanischen Unternehmen Fujitsu angenommen und ein Soundsystem zum Rund-um-die-Uhr-Monitoring älterer Menschen entwickelt, das beispielsweise zwischen dem Geräusch eines fallenden Menschen und eines fallenden Objekts unterscheiden kann und schweres Atmen oder starken Husten erkennt. Angst vor Privatsphäreverletzungen begegnet man mit dem Hinweis darauf, dass das System keine Kameras verwende und nur gefilterte Akustikdaten zur Auswertung sende, denen keine Gespräche entnommen werden können. „Wenn morgens keine Geräusche erkannt werden“, schreibt die japanische Zeitung Asahi Shimbun lakonisch über den hilfsbereiten Lauscher, „kann das System daraus schließen, dass die Person nicht aufgewacht ist.“

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Und hier noch wie immer der Tweet der Woche: