Überraschend haben die Berliner Philharmoniker den 43-jährigen Russen Kirill Petrenko zum Chefdirigenten gewählt. Vor sechs Wochen waren sie noch ohne Votum auseinander gegangen.

Berlin - Für eine Überraschung sind die Berliner Philharmoniker immer gut. Mal so, mal so. Als sie am 11. Mai in Berlin-Dahlem belagert von Kameras und Berichterstattern nach mehr als elf Stunden Beratungen und Probeabstimmungen keinen Nachfolger für ihren 2018 scheidenden Chefdirigenten Simon Rattle gefunden hatten, glich das einem Donnerschlag. Die Spekulationen schossen hoch, das Orchester sei tief gespalten in Konservative und Aufbruchsanhänger – es hieß, man habe sich nicht entscheiden können zwischen Christian Thielemann und Andris Nelsons.

 

Die wahlberechtigten 124 Musikerinnen und Musiker dieses Orchesters, das als einziges dieser Klasse den Chef selbst wählt, vertagten sich. Binnen eines Jahres sollte die Suche abgeschlossen werden. Nun ging es schneller als erwartet. Am gestrigen Montag, genau sechs Wochen nach der gescheiterten Kür, präsentierten der vierköpfige Orchestervorstand und der Intendant Martin Hoffmann um 13.05 Uhr im Foyer der Berliner Philharmonie Kirill Petrenko als designierten Chefdirigenten.

Diesmal ohne jede mediale Begleitung hatte sich das Orchester am Sonntag um 9 Uhr versammelt und war sich gegen Mittag einig. Um 12 Uhr habe man in München angerufen, so der Orchestervorstand – und Petrenko zugesagt. Wegen der Kurzfristigkeit und weil alle Details des Vertrags wie Laufzeit und Anwesenheiten erst in den kommenden Wochen besprochen würden, war der Erkorene selbst nicht in Berlin.

Das Schlüsselwort ist „harte Arbeit“

Immerhin ließ der 1972 im sibirischen Omsk Geborene eine Erklärung verbreiten: „Man kann es gar nicht in Worte fassen, was in mir gefühlsmäßig vorgeht: Von Euphorie und großer Freude bis zu Ehrfurcht und Zweifel ist da alles drin. Ich werde meine ganze Kraft mobilisieren, diesem außergewöhnlichen Orchester ein würdiger Leiter zu sein, und bin mir auch der Verantwortung und der hohen Erwartungen bewusst. Vor allem erhoffe ich aber vom gemeinsamen Musizieren viele Momente des künstlerischen Glücks, die unsere harte Arbeit belohnen und unser Künstlerleben mit Sinn erfüllen sollen.“

Nicht Freude, Ehrfurcht, Glück sind hier die Schlüsselworte, sondern „harte Arbeit“. Und deshalb ist Petrenkos Wahl, die auf den ersten Blick verblüfft, vernünftig. Zwar war beim Kandidatenroulette der Name des skrupulösen 43-Jährigen gesetzt, der seit Jahren keine Interviews gibt und seine Engagements strikt begrenzt, doch schien er vielen für die Orchester-Weltmarke etwas zu eigenbrötlerisch. Auch kennen sich die Parteien gar nicht gut. Für genau drei Konzertprogramme – darunter kein Haydn, Mozart, Brahms, keine Beethoven- oder Bruckner-Sinfonie – ist Petrenko bisher bei den Berlinern gewesen: in den Jahren 2006, 2009 und 2012. Zu einer geplanten vierten Zusammenarbeit ist es im vergangenen Dezember nicht gekommen. Petrenko sollte Gustav Mahlers sechste Sinfonie dirigieren, sagte unter etwas mysteriösen Umständen äußerst kurzfristig ab und schien sich damit selbst aus dem Rennen genommen zu haben.

2013 triumphierte er mit dem „Ring“ in Bayreuth

Doch an diesem Musiker kommt man heute nicht vorbei, auch wenn er bisher vor allem im Opernhaus Furore gemacht hat, auch in Berlin, wo er von 2002 bis 2007 Generalmusikdirektor an der Komischen Oper Berlin gewesen ist. Davor war der Name des 29-Jährigen, der aus aus einer jüdischen Musikerfamilie stammt, zum Begriff geworden, als er am kleinen Meininger Theater Wagners „Ring“ an vier aufeinanderfolgenden Abenden herausbrachte. Den „Ring“-Triumph wiederholte er 2013 in Bayreuth: Frank Castorfs Inszenierung war für den Publikumsskandal gut, was Kirill Petrenko aus der Partitur zauberte, für die Sensation. Im gleichen Jahr trat er sein Amt als Generalmusikdirektor der Bayerische Staatsoper in München an.

Dort wird man nun zittern, ob Petrenko seinen bis 2018 laufenden Vertrag nicht verlängert und sich ganz den Berlinern widmet. Andere Chefs vor ihm mochten von der Oper nicht lassen, banden sich gleichzeitig an erste Häuser: Wilhelm Furtwängler dirigierte in Bayreuth und an der Berliner Staatsoper, Herbert von Karajan war neben seiner Berliner Verpflichtung sieben Jahre bis 1964 künstlerischer Leiter der Wiener Staatsoper.

Ein genialischer Musiker

Doch Petrenko, der mit seinen Eltern als 18-Jähriger nach Österreich auswanderte, ist keiner, der jede Ecke der Welt mit seinen Taktstockkünsten beglücken will. So sehr der zum Exklusiven neigende Musiker die Berliner damit erfreuen könnte, andere Aspekte des heutigen Klassikbetriebs sind ihm fremd. Er ist kein geselliger Typ wie Simon Rattle, der weiß, dass heute der mediale Aspekt eine wichtige Rolle im Auftritt selbst eines Eliteorchesters wie den Berlinern spielt. Der kleine, zart wirkende Petrenko ist zudem gesundheitlich angeschlagen; Rücken- und Halswirbelprobleme belästigen ihn, eine verbreitete Berufskrankheit. Vor einigen Wochen musste er Orchesterproben bei der Vorbereitung der „Lulu“-Premiere in München absagen. Aber wenn er fit ist, dann ist ein genialischer Musiker zu erleben. Petrenko und sein künftiges Orchester mit Skrjabins „Poème de l’extase“ bei Youtube: ekstatisch!