Pflegende Angehörige sind ärmer und öfter krank als andere Bürger. Der Pflegebericht der Barmer zeichnet ein Bild vom Notstand im Südwesten – und erhebt Forderungen an Land und Bund.

Stuttgart - Der sich abzeichnende Pflegenotstand betrifft nicht nur Heime und Kliniken, sondern in Baden-Württemberg vor allem rund 294 000 pflegende Angehörige. „Die Familie ist der größte Pflegedienst, bei uns im Südwesten werden die meisten Pflegebedürftigen daheim versorgt“, sagte Winfried Plötze, Landesgeschäftsführer der Barmer Ersatzkasse am Montag bei der Präsentation des Pflegereports 2018, der aus eigenen Daten sowie den Ergebnissen einer Umfrage erstellt worden ist. Demnach sind 22 000 dieser Angehörigen durch die häusliche Pflege so überlastet, dass sie kurz davor sind, „das Handtuch zu werfen“, sagte Plötze. „Wenn das passiert, kollabiert das System.“

 

Jeder zweite klagt über Rückenschmerzen

Die Beschwerden der familiären Pflegerinnen und Pfleger sind breit gestreut. Zum einen berichten 60 Prozent über die Bürokratie beim Beantragen von Leistungen. Schwerer wiegen aber die körperlichen und psychischen Belastungen: so klagen 53 Prozent über Rückenschmerzen, 28 Prozent über Depressionen und 13 Prozent über allgemeine Belastungsstörungen wie Magenprobleme, Erschöpfung oder Unwohlsein. Bei einer Vergleichsgruppe, die niemanden pflegen, sind die Zahlen weitaus niedriger. Einige Beispiele: Im Kreis Calw haben 69 Prozent der Pflegenden Rückenbeschwerden, bei den Nicht-Pflegenden sind es nur 50 Prozent. In Freiburg und dem Hohelohekreis haben 24 Prozent der Pflegepersonen eine Belastungsstörung, aber nur elf Prozent derjenigen, die nicht pflegen. „Die Betroffenen haben oft weder die Zeit noch die Kraft, sich über Unterstützungsangebote zu informieren“, berichtete Sylvia Kern, die Geschäftsführerin der Alzheimer-Gesellschaft Baden-Württemberg. „Viele Angehörige überfordern sich. Die Pflege eines Demenzkranken ist ein 24-Stunden-Job.“

Laut Pflegereport kümmert sich jeder zweite Angehörige mehr als zwölf Stunden täglich um ein pflegebedürftiges Familienmitglied. Bundesweite Zahlen sagen, das ein Drittel der Angehörigen unter Schlafstörungen leidet, einem weiteren Drittel fehlen Zeit für Sport und Entspannung und 14 Prozent gehen aus Zeitmangel nicht zum Arzt. Auffällig ist auch das Armutsproblem der Pflegenden. Gutverdiener, so Winfried Plötze, geben ihren Job weniger häufig für die Pflege von Angehörigen auf. 44 Prozent der von der Barmer befragten gaben an, ein Nettohaushaltseinkommen von unter 1000 Euro zu haben. „Da die Armutsschwelle für einen Singlehaushalte bei 942 Euro liegt, kann die finanzielle Lage von Pflegenden prekär genannt werden“, sagte Plötze.

Die neuen Stellen sind ein „Tropfen auf den heißen Stein“

Der Kassenfunktionär begrüßte es, dass die Bundesregierung ein sogenanntes Entlastungsbudget von 2020 an plant, mit dem die Bürokratie abgebaut werden kann, indem die Leistungen von Verhinderungs-, Kurzzeit-, Tages- und Nachtpflege zusammengelegt werden. Die Barmer spricht sich dafür aus, auch den sogenannten Entlastungsbetrag von 125 Euro monatlich hier mit einzubeziehen. Auf die Weise könnten Eigenanteile beispielsweise für eine Kurzzeitpflege vermindert werden.

Um die Lage der Pflegenden zu verbessern, richteten sowohl Plötze als auch Kern politische Forderungen an Bund, Land und Kommunen. „Die mit dem Pflegestärkungsgesetz geschaffenen 13 000 Stellen zusätzlich sind nur ein Tropfen auf den heißen Stein, wir brauchen deutlich mehr“, sagte Plötze. Statistisch komme auf eine Institution nur eine Pflegekraft mehr. Auch müsse die häusliche Pflege für die Angehörigen finanziell attraktiver werden, denn rund 900 Euro in der maximalen Pflegestufe fünf seien zu wenig. Sylvia Kern appellierte an das Land Baden-Württemberg, die Mittel für häusliche Betreuung – hier finanzieren Land und Pflegekassen Programme gemeinsam – vom nächsten Jahr an weiterzuentwickeln. „Aus diesen Mitteln werden beispielsweise Betreuungsgruppen für Demenzkranke oder Unterstützungen im Alltag finanziert.“ An Städte und Gemeinden geht der Appell, sogenannte Pflegestrukurpläne zu erstellen, in denen anhand der demografischen Entwicklung eines Ortes der zukünftige Bedarf an ambulanter und stationären Pflege dargelegt wird. Die Krankenkasse selbst will es ermöglichen, dass vom Sommer an Anträge auf Pflegeleistungen auch online gestellt werden können. Sie bietet eine Pflegeberatung am Telefon oder durch Hausbesuche.