Es war ein denkwürdiges Heimspiel vor knapp 10.000 Zuschauern in der Schleyerhalle in Stuttgart – auch für den Ludwigsburger Sänger Philipp Poisel selbst, den wandelnden Widerspruch unter den Popstars.

Stuttgart - Der Kerl bietet derart viel Angriffsfläche – man erkennt die dümmsten unter den Zynikern daran, dass sie diese umgehend nutzen. „ Ich will ein Roman sein, auf den Seiten deines Lebens, geschrieben mit Tinte, schwarzer Tinte aus deinem Herz. Ich will ein Orkan sein, keine kurze Geschichte“ , singt Philipp Poisel auf einer kleinen Bühne in der Mitte der Halle, ein Laufsteg trennt ihn von der Hauptbühne. Um Himmelswillen: natürlich ist das Kitsch, fürchterlicher Kitsch sogar.

 

„Roman“, das zugehörige Lied, könnte auch von Coldplay, Reamonn oder sonst wem sein, der vielen Menschen gerecht werden möchte. Das ist keine Schande, das ist Pop. Poisel selbst ist die Besonderheit in diesem Arrangement, denn er leuchtet, weil er gar nicht leuchtet. Der Ludwigsburger Singer/Songwriter ist das Gegenteil von Pop: schmächtig, etwas ungelenk, nuschelnd – irgendwie verhuscht, als wäre der Kopf prinzipiell da, wo der Körper gerade nicht ist.

In „Froh, dabei zu sein“ singt der 33-jährige: „Ich hab furchtbar Angst vorm Tod, ich hoffe ich bin dort nicht allein. Auch wenn das Leben manchmal traurig ist …“ und das vorwiegend junge, weibliche Publikum übernimmt dankend: „ … bin ich froh, dabei zu sein.“ – Liebe, Angst und der Tod lenken uns seit jeher in Gebiete, in denen derart in Zucker gegossene Gefühlsduselei manchmal tatsächlich Sinn ergibt. Nichts daran ist cool, es ist lediglich menschlich. Solch fragile Zeilen in die unwirtliche Schleyerhalle zu tragen – man könnte auch das erste Date im Bistrobereich eines Pizzabringdienstes verbringen. Doch was Poisel und seine Begleitband da mit den fast 10 000 Zuschauern anstellen, sagt vornehmlich eines: Wenn das Herz stimmt, ist es überall genau richtig.

Etwas übermotiviert wirkt die Inszenierung

Am Samstagabend menschelt es hier bereits nach wenigen Takten: Da legt man dem Partner die Hand aufs Knie, schaut sich verträumt an, schwingt oder singt gedankenverloren mit. Zwei Mädchen auf der Tribüne treffen jedes Wort, das Poisel in die Halle singt. Toll, auch weil man ihn so besser versteht, wenn er nuschelt – und das tut er sehr oft. Nur bei „Zünde alle Feuer“ sind die Mädchen kaum noch hörbar: da wenden sich Poisel und Band von der getragenen Stimmung ab und werden laut und ungestüm.

Etwas übermotiviert wirkt derweil die Inszenierung: Immer wieder herrscht Unruhe, weil die Band auf die kleine Bühne in der Hallenmitte wechselt oder teils groteske Kulissen aufgefahren werden – ein Schwarzwaldszenario, Fackeln, menschliche Tetris-Klötze, oder eine sich drehende meterhohe Ballerina-Silhouette, die lediglich von „Mit jedem deiner Fehler“ ablenkt. Einmal ist dieses Schultheater fast symbolisch: Auf der Leinwand hinter der Bühne leuchtet ein Sonnenuntergang, mit Palmen und einer Brücke über ein Tal. Während Poisel leise singt, fährt plötzlich eine schnaufende Bimmelbahn über die Brücke. Sie übertönt ihn.

Tanzen, als gäb’s kein Morgen mehr

Nach 100 Minuten läutet Poisel mit „Als gäb’s kein Morgen mehr“ ein Grande Finale ein, das gar nicht mehr aufhören will. Konfetti für alle, wer will, tanzt mit ausgebreiteten Armen und sich selbst und Poisel haut ein paar Breakdance-Moves raus – tanzen, als gäb’s kein Morgen mehr, sondern nur noch Zugaben.

Nach fast zweieinhalb Stunden entlässt er sich und sein sichtlich ergriffenes Publikum wieder raus ins andere Leben. Dorthin, wo Poisels aufdringliche Nahbarkeit gleichermaßen Kitsch auf die Mühlen der Zyniker, wie auch Napalm für das Feuer der hoffnungslosen Romantiker ist. Irgendjemand wird am Schluss lächeln. Mögen es die Romantiker sein – sie glauben wenigstens noch an etwas. „Kommet guad hoim“, ruft Poisel.