Der Pianist Maximilian Schairer aus Sillenbuch plant eine CD-Aufnahme und ein Festival unter Corona-Bedingungen. Er glaubt an Überraschungen während seiner Konzerte.

Stuttgart - Wenn Maximilian Schairer (23) am Flügel technisch anspruchsvolle Sprünge übt, kann einem beim Zuhören schwindelig werden. Aber um die Technik geht es ihm nicht. Er rückt seinen Schemel ein paar Millimeter näher ans Klavier, spielt die gleichen Takte noch einmal, und plötzlich klingen sie nachdrücklich fordernd. Man mag nun an einen beleibten Herrn denken, der werbende Worte an eine umschwärmte Dame richtet. Oder, mehr noch, an einen Schuldeneintreiber in einem Hollywood-Film, der mit Nachdruck an die Erstattung horrender Summen erinnert. „Das muss man zeigen“, sagt Maximilian Schairer, „und zwar nicht, indem ich jemandem ins Gesicht schlage“.

 

Stattdessen wartet er nun ein wenig länger auf den Vierteln, „damit das Ungeduldige besser rüberkommt“, und langt bei einem der Akkorde ein bisschen kräftiger hin als zuvor. Die musikalische Figur wiederholt sich, Schairer braucht mehrere Varianten. Mal scheint der Schuldeneintreiber kompromissbereit, Aufschub möglich. Mal droht er mit dem Besuch der ganz harten Jungs, sofern nicht alles bis morgen beglichen ist.

Ob der französische Komponist César Franck beim Kreieren seiner Violin-Sonate in A-Dur von Inkasso-Varianten inspiriert wurde, ist nicht überliefert. Maximilian Schairer wird sie spielen, wenn er Anfang Oktober mit einem Geiger sein erstes Album aufnimmt – mit Spätromantik aus Frankreich. Die Sonate eignet sich bestens, weil sie Schairer in die Lage versetzt, genau das zu tun, worauf es ihm ankommt: „Mein Ziel von Musik ist, mich mit Menschen zu connecten“, sagt er, „was sagt zum Beispiel Beethoven, und was sage ich? Schön finde ich den Prozess des Erzählens.“ Und zwar mittels klingender Geschichten: „Man kann drei Fehler mehr machen, aber dabei eine spannende Geschichte erzählen – in solche Konzerte gehe ich lieber.“

Talent – und was man daraus macht

Die CD, die vielleicht den Mond im Titel tragen wird – aber das ist noch nicht sicher, wie derzeit vieles in Maximilian Schairers Berufsleben, schon coronabedingt – soll eine „ganz ganz hochwertige Visitenkarte“ eines Musikers werden, der bereits mehrfach als Solist mit den Stuttgarter Philharmonikern aufgetreten ist. Auf dem Weg in die großen Konzerthallen hat er jedoch manches anders gemacht, als viele seiner Kollegen.

Weil er als kleines Kind so gerne einem sechs Jahre älteren Nachbarsjungen zugehört hat, „bettelte“ er, so nennt er das, bereits als Zweijähriger bei seinen Eltern in Stuttgart-Sillenbuch um ein Klavier. Zum dritten Geburtstag bekam er eines, mit viereinhalb erhielt er Unterricht. Bald galt er als hochbegabtes Wunderkind. „Ich mag diesen Begriff nicht“, sagt er, „wenn man Talent hat, muss man etwas daraus machen.“ Jedenfalls gewann er wenig später Preise, entschied jedoch als Teenager, fortan nicht mehr an Wettbewerben teilzunehmen. „Es gibt dort viel Vetternwirtschaft“, sagt er Jahre später, und ein wenig verfinstert sich eine Mimik, die ansonsten vor allem Zuversicht ausstrahlt, obwohl seine Konzerte in den vergangenen Monaten coronabedingt ausgefallen sind.

Die Pandemie macht dem Masterstudenten an der Stuttgarter Musikhochschule auch als Veranstalter zu schaffen. Ob sein eigenes kleines Festival Zukunftsklang 2020 wie in den vergangenen Jahren in der dritten Oktoberwoche stattfinden kann, ist noch nicht ganz sicher. Wenn, dann in kleinem Rahmen. Die Zuschauerbeschränkungen. „Und manche Leute gehen kaum noch aus dem Haus.“ Außerdem: „Sponsoring kann man derzeit vergessen.“ Dennoch: „Zwei Konzerte werden bestimmt stattfinden.“ Die spielt er bei seinem Festival, in dessen Zentrum die „Vernetzung“ stehen soll, selbst.

Die Kunst der Überraschung

Er ist gut darin, mit Ungewissheiten flexibel umzugehen, zuweilen zelebriert er selbst absichtsvoll Offenheit. Wenn man seine Konzertvideos auf Youtube aufruft, fällt neben seiner Ernsthaftigkeit und seiner Hingabe eine Art besondere kreative Bedächtigkeit auf: Manchmal wirkt es dann, als entscheide der Pianist erst in dem Moment, in dem ein Finger eine Taste berührt, über Tempo und Dynamik. Das ist gewollt, der Geschichten wegen: „Wenn man in einem Buch weiß, dass auf Seite 60 jemand umgebracht wird, dann ist es nicht mehr spannend“, sagt Maximilian Schairer, „man muss die Musik aber so vermitteln, dass sie spannend ist.“ Die Kunst bestehe in der Überraschung.

Fünf, sechs Stunden übt er täglich, macht sich eine musikalische Farbenpalette zugänglich, wie er das nennt, „Dunkelblau, Hellblau, noch helleres Blau, Blau, das ins Türkis geht.“ Die Technik, sagt, er, sei nur das Fundament, „aber wenn das Haus dann steht, möchte man, dass es schön ist.“ Er sucht Interpretation statt Reproduktion. Wenn er auf dem Schemel im Konzertsaal Platz nimmt, weiß er im Detail, an welcher Stelle in der Partitur er sich zuvor intellektuell und emotional Schmerz und Trauer erarbeitet hat, wo Freude und Überschwang. Dennoch bleibt weiterhin vieles offen: „,No risk, no fun‘ trifft meine Herangehensweise nicht hundertprozentig, aber es geht in diese Richtung.“

Dann spielt er nochmal die paar Takte aus César Francks Sonate, diesmal so dynamisch, dass der Fordernde im Kopf des Zuhörers unverhohlen droht: „Ob der Schuldeneintreiber Aufschub gewährt oder die harten Jungs schickt, kann sich von Abend zu Abend ändern“, sagt Maximilian Schairer und lacht.