John Cranko nannte ihn „Sunshine“. 1972 holte der legendäre Ballettchef den Pianisten George Bailey nach Stuttgart. Der Korrepetitor, der Teil eines Tanzwunders wurde, kehrt für „Die Kameliendame“ zurück auf die Bühne.

Stadtleben/Stadtkultur: Uwe Bogen (ubo)

Stuttgart - Wenn du jung bist, steckst du so tief im Leben drin, dass dir gar nicht auffällt, wie hell der Schatz deiner Jugend leuchtet. Wie auch hätte der in Denver geborene George Bailey wissen können, dass er Anfang der 1970er, nachdem er seinen Militärdienst in Germany beendet hatte, durch die Verkettung von Zufällen genau dort mittendrin landen sollte, wo das wichtigste Kapitel der deutschen Tanzgeschichte geschrieben wurde.

 

Bailey, der in den USA Musik studiert hatte, eröffnete nach seiner GI-Zeit in Heidelberg einen Jeansladen und lernte dabei Stuttgarter kennen. Die luden ihn zu einer Party bei einem Zahnarzt ein, wo sich Mitglieder des Balletts trafen. In der Wohnung stand ein Klavier, an das sich der Jeansverkäufer setzte. Alle waren begeistert. Einer schwärmte besonders – John Cranko.

Größen der Stuttgarter Ballettfamilie im Publikum

Der Ballettchef fragte den Pianisten, ob er nicht Korrepetitor bei ihm werden und von Heidelberg nach Stuttgart ziehen wolle. „Ich wusste nicht, was ein Korrepetitor ist“, erinnert sich George Bailey. 41 Jahre lang sollte er diesen Beruf ausüben – bis er sich 2013 im Alter von 69 Jahren in den Ruhestand verabschiedet hat. Mit dem Klavier oder dem Tonband begleitete der dunkelhäutige Strahlemann nicht nur Tänzerinnen und Tänzer bei Proben mit einer bis heute sprichwörtlichen Präzision. Er löste oft auch dank seines Humors und seiner Ruhe Spannungen auf, zu denen es kommt, wenn Künstlertemperamente aufeinanderprallen. Und er kannte – und kennt noch immer – die klassischen Ballettinszenierungen bis ins kleinste Detail.

Dies dürfte der Grund gewesen sein, warum der neue Intendant Tamas Detrich den 74-jährigen Pianisten gefragt hat, ob er nicht noch einmal auf der Bühne mitwirken könne – bei der Wiederaufnahme zum 40. Geburtstag von „Die Kameliendame“, dem Ausnahmewerk von John Neumeier.

Als am Mittwochabend Premiere gefeiert worden ist, saßen Größen der Stuttgarter Ballettfamilie im Publikum. Die 81-jährige Tanzlegende Marcia Haydée war da, die einst die Titelrolle spielte, auch der gleichaltrige Kostümbildner Jürgen Rose – beide hatten „Die Kameliendame“ bei der Uraufführung 1978 zum Erfolg geführt. Der Einzige im aktuellen Ensemble, der damals schon auf der Bühne stand, ist Bailey. Bis Juli spielt er genau dieselbe Rolle wie einst, den Assistenten des Auktionators, der immer wieder Gegenstände auf der Bühne hin und her trägt. Eigentlich ist es eine Statistenrolle. In Wahrheit ist dieser Part viel mehr. Weil der Pianist das Stück so gut kennt, kann er korrigierend einschreiten, wenn was nicht stimmt. „Es sind Gläser auf der Bühne“, sagt er, „einmal fiel eines auf den Boden.“ Rasch musste er die Scherben beseitigen. Ein andermal wurden die Möbel nicht korrekt platziert – auch da konnte Bailey helfen.

Ein emotionales Erlebnis

„Es hat mich gefreut, dass mich Tamas gefragt hat, ob ich noch mal dabei sein will“, sagt er. Für ihn ist die Rückkehr auf die Bühne des Balletts ein zutiefst emotionales Erlebnis. So viele Höhepunkte seines Lebens hat er mit der Kompanie erlebt, arbeitete seit Cranko für alle Intendanten, jetzt also auch für Detrich. Und er weiß, was sich in all den Jahren verändert hat und was zum Glück nicht. „Die Technik der Tänzer ist heute auf einem viel höheren Niveau, viel athletischer“, sagt Bailey.

Friedemann Vogel und Alicia Amatriain, die neuen Stars der „Kameliendame“, seien „ganz großartig“, schwärmt er. „Die Liebe höret nimmer auf“, steht auf der königlichen Grabkapelle auf dem Württemberg. Beim Stuttgarter Ballett ist dies nicht anders. Nach Baileys Abschied in den Ruhestand blieb der Kontakt zum Ensemble eng. Man trifft sich privat. Die Jungen hören die Geschichten der Alten gern, und die Alten bleiben mit den Jungen jünger. Die Alten haben den Reichtum des Lebens erfahren und die Zumutungen. Die Jungen haben noch viele Träume zu entdecken und erkennen, dass Gespräche mit einem Wissenden sie weiterbringen können.

Fast 47 Jahre ein Paar

Eine Geschichte kommt immer wieder gut an: Im Sommer 1972 saß Bailey in der Ballettpause auf den Stufen vor der Oper. Ein ebenfalls junger Mann schob sein Rad am Eckensee vorbei. Crankos „Sunshine“ sprach den Radler an, der ihm gefiel. Zur zweiten Hälfte kehrte er nicht in die Oper zurück. Stattdessen schloss sich der Pianist dem Radfahrer an. Fast 47 Jahre später sind die beiden noch immer ein Paar. Albrecht Mayer, der bis zur Rente im Kultusministerium gearbeitet hat, ist, wie sein Lebensgefährte sagt, „der ordnende Ausgleich in meinem Künstlerchaos“.

Dass sich in Stuttgart früher als andernorts liberales Denken durchgesetzt hat, war ein Verdienst des Balletts und ihres 1973 viel zu früh verstorbenen Chefs John Cranko. Die Stadt liebte den charismatischen, experimentierfreudigen und offen schwul lebenden Vater des Ballettwunders. Bis heute liebt die Stadt Künstler, die sich dem Tanz mit Haut und Haar hingeben, die Emotionen in extremer Form ausleben und diese faszinierend weitergeben. Die Liebe zum Ballett höret nimmer auf.