Als Polizist konnte Udo Falke mit gefährlichen Situationen umgehen. Doch dann kam die Angst über ihn und er konnte nicht mehr arbeiten.

Stuttgart - Es war an einem schönen Urlaubstag vor vier Jahren, als die Angst Besitz nahm von Polizeikommissar Udo Falke, damals 43 Jahre alt. Er fuhr mit dem Auto in Richtung Köln, sein Sohn, damals zwölf Jahre alt, saß auf dem Beifahrersitz. Sie hatten sich beide gefreut auf diesen Tag, der der letzte im alten Leben von Udo Falke werden sollte. Er fühlte sich leicht benommen und kurbelte das Fenster herunter. Zu wenig gegessen, dachte er, oder zu wenig getrunken. Sie kamen in Köln an, Falke stellte das Auto vor dem Stadtpark ab. Er stieg aus - es war ihm schwindlig, er spürte sein Herz schneller und schneller schlagen, Schweiß stand ihm auf der Stirn, er musste sich auf das Autodach lehnen. Er schnappte nach Luft, es war ihm, als läge ein Gürtel um seinen Brustkorb, den jemand enger und enger schnürte. Er spürte Stiche in der Brust, die bis in Fingerspitzen pochten - und eine unbändige Angst stieg in ihm auf. Ein Herzinfarkt! "Mir geht es nicht gut, aber es ist bestimmt nichts Schlimmes", sagte er seinem Sohn und schickte ihn zur Verabredung in den Park.

 

Heute sitzt Udo Falke in einem Büro im dritten Stock der Polizeidirektion Neuss. Er trägt ein kurzärmeliges kariertes Hemd, Jeans. Draußen vor der Tür des Gebäudes stehen die anderen, die "richtigen Polizisten", wie Falke sagt, in ihren Uniformen. Zu ihnen gehörte er bis zu jenem Tag vor vier Jahren, von dem er jetzt mit ruhiger Stimme erzählt. "Die Männer vom Rettungsdienst legten mich auf die Bahre, und dann wurde ich in die Uniklinik Köln gefahren." Es folgten ein EKG, ein Ultraschall des Herzens, nichts deutete auf einen Infarkt oder eine andere organische Krankheit hin. Falke erzählte den Ärzten, dass er eventuell zu wenig getrunken habe. Man hängte ihm eine Infusion an, dann wurde er entlassen.

"Verrückt bin ich bestimmt nicht"

Am nächsten Tag - er saß zu Hause auf dem Sofa - kamen die Beklemmung, die Herzstiche, die rasende Panik wieder. Seine Frau fuhr ihn nach Mönchengladbach in die Klinik. Auch hier wurde er ausführlich untersucht, auch hier fanden die Ärzte keinen Defekt. Falke fuhr mit seiner Frau nach Hause. "Was ist nur mit mir los?", fragte er sie. Beide waren ratlos. Am nächsten Tag fing es mit starkem Schwindel an, innerhalb von Minuten war Udo Falke sicher, dass er jetzt sterben würde. Diesmal brachte ihn seine Frau ins Klinikum Krefeld. Hier nahm man ihn stationär auf, machte neue Untersuchungen. Befund: keine organische Ursache feststellbar. Falke bebte innerlich, die Ärzte hielt er für unfähig. Er war doch krank, stand kurz vor dem Tod. Wie konnten die Mediziner die Ursache seiner Krankheit übersehen? Man schickte einen Psychotherapeuten zu ihm ans Bett. Der unterhielt sich kurz mit ihm - und fragte, was er von einer mehrwöchigen stationären Therapie halte.

"Da ist bei mir komplett die Schranke gefallen", sagt Falke. "Verrückt bin ich bestimmt nicht", habe er dem Psychotherapeuten gesagt. Es folgten Kernspinuntersuchung, Computertomografie, ein Termin beim Kardiologen - doch es wurde keine organische Ursache gefunden. "Kurze Zeit später saß ich beim zuständigen Polizeiarzt und musste mir eingestehen, dass ich wohl psychisch krank bin", erzählt Falke. Die Diagnose damals: Panikstörung. Ein Polizist mit Panikattacken, am Steuer eines Streifenwagens, mit einer Pistole im Halfter? Der Polizeiarzt stellte ihn vom Dienst frei.

Im Dienst wollte er keine Schwäche zeigen

Udo Falke blickt sich in seinem Büro um. "Mein Herz hängt am Streifendienst, aber ich musste einsehen, dass ich dazu nicht mehr in der Lage bin." Anderthalb Jahre konnte er gar nicht arbeiten. Waffe und Uniform musste er abgeben. "Ich war 25 Jahre bei der Autobahnpolizei gewesen - und plötzlich habe ich mich nicht mehr getraut, auf die Autobahn zu fahren."

Auf dem Heimweg mit Udo Falke in seinem Renault Clio, auf der vorderen Ablage liegt eine Polizistenfigur aus Plüsch und ein Asthmaspray. Fahrt über die A 57, hier patrouillierte er früher mit dem Streifenwagen. Dichter Verkehr, Falke fährt vorsichtig, fast immer auf der rechten Spur. Wir passieren seine ehemalige Dienststelle. "Ich habe einige schwierige Situationen erlebt", sagt er. Einmal wurden er und ein Kollege zu einem Rastplatz gerufen. Dort stand ein Mann, blutüberströmt, der sich mit dem Messer den Hals aufgeschnitten hatte, er wollte sich umbringen. Falke hielt ihn fest, der Mann wehrte sich mit aller Kraft. Trotzdem konnten ihn die beiden Polizisten von einem weiteren Suizidversuch abhalten, bis der Notarzt eintraf und dem Mann eine Beruhigungsspritze gab. Als die Sanitäter die Bahre an ihm vorbeitrugen, sagt Falke zu ihnen: "Da könnte ich mich jetzt auch drauflegen." Wenig später saß er wieder im Streifenwagen, sein Kollege war gelassen, Falke saß innerlich aufgewühlt neben ihm, sagte aber nichts, weil er keine Schwäche zeigen wollte.

"Sei anständig - was sollen die Leute von uns denken?"

Später dann, zu Hause, empfand er keinen Stolz, mit beherztem Handeln einem Menschen das Leben gerettet zu haben, sondern es quälten ihn Gedanken: "Ich hätte diesen Satz nicht sagen sollen. Die Sanitäter denken jetzt, dass ich ein Weichling bin. Ich hätte besser reagieren müssen." Die ganze Nacht wälzte er sich im Bett hin und her.

Udo Falke sitzt im Garten hinter dem Reihenhaus, in dem er mit seiner Frau und seinem Sohn wohnt. "Ich habe mir manchmal gewünscht, in solchen Situationen nicht so beherrscht zu sein", sagt er. "Irgendwann müssen solche Erlebnisse aufgearbeitet werden. Ich habe das verschleppt - und dann kam es geballt als Panikattacken." Dieses Verhaltensmuster habe er in seiner Kindheit gelernt. Seine Eltern, Flüchtlinge aus Ostpreußen lebten vor, eigene Bedürfnisse zurückzustellen. Ihren Sohn erzogen sie dazu, es genauso zu machen. "Von klein auf wurde mir eingebläut: Sei anständig, fleißig, angepasst - was sollen die Leute sonst von uns denken? Ich wollte perfekt sein, damit ich von allen gemocht wurde."

Wütend auf die Krankheit

Falkes Frau Virginia kommt dazu, setzt sich an den Gartentisch. Sie erinnert sich an die Zeit, in der die Panik ihres Mannes den Alltag bestimmte. "Vorher hatte er mich gestützt - und auf einmal war er wie ein Kind, das Hilfe brauchte", sagt sie. Er ging nicht mehr zur Arbeit, stand manchmal zitternd und weinend vor ihr. Tage und Wochen lag Udo Falke im Bett, starrte an die Decke, stand kaum noch auf. "Was bedrückt dich?", fragte sie ihn. Er wusste keine Antwort. "Er hatte manchmal sogar Angst, zur Toilette zu gehen", sagt sie. Udo Falke nickt stumm.

Einmal waren sie auf ein großes Fest eingeladen. Doch eine Stunde, bevor sie losfahren wollten, schüttelte Udo Falke den Kopf, er könne nicht mit. "Ich war so enttäuscht", erzählt sie. "Ich wusste, dass er nichts dafür konnte, aber ich war wütend auf seine Krankheit." Sie beschloss, sich nicht unterkriegen lassen und alleine zur Party zu fahren. "Am Anfang war es seltsam, so alleine, aber dann habe ich getanzt, gelacht und sehr viel Spaß gehabt - ich kam glücklich nach Hause." Dort stand ihr Mann vor ihr und fragte: Wie war's? "Ich habe es ihm erzählt, und er hat sich mit mir gefreut", sagt Virginia. Er lächelt ihr zu, die Lippen aufeinandergepresst.

Hilfe in der Gruppe

Wie hat Udo Falke es dann doch geschafft, seine Angst so weit zurückzudrängen, dass er wieder arbeiten, wieder auf der Autobahn fahren, wieder leben kann? "Meine Frau hat mir immer Mut gemacht, kleine Erfolge gelobt, andererseits war sie auch manchmal streng mit mir." Die Wende kam aber erst, nachdem Udo Falke einen Psychotherapeuten gefunden hatte - und vor allem eine Selbsthilfegruppe.

Am ersten Tag sah er die anderen Teilnehmer aus der Gruppe und konnte nicht glauben, dass auch sie von massiven Ängsten gequält wurden. Ein Mann, annähernd zwei Meter groß, sportliche Figur, der einen getunten 5er-BMW fährt, erzählte, dass es sein Traum sei, einmal mit dem Auto nach Düsseldorf zu fahren - 20 Kilometer über die Autobahn. "Es hat mir sehr geholfen, andere Leute zu treffen, denen es genauso ging wie mir."

"Ich habe nicht gemerkt, dass ich auf mich achten muss."

Langsam ging es wieder aufwärts. Erst musste er sich überwinden, zu seiner Frau ins Auto zu steigen und sich zur Selbsthilfegruppe chauffieren zu lassen. Dann konnte er in Begleitung selbst fahren, nach sechs Monaten traute er sich wieder alleine ans Steuer. Sein Zustand verbesserte sich Monat für Monat. Schließlich fühlte er sich in der Lage, wieder zu arbeiten. "Ich hatte das Glück, dass es mein Arbeitgeber mir ermöglicht hat, auf Teilzeitbasis wieder einzusteigen", sagt er heute.

Anfangs hatte er im Büro noch Panikattacken, besonders, wenn er Daten in den Computer tippen musste, eine Arbeit, die ihn nicht forderte. Er zwang sich, tief durchzuatmen, ging auf dem Gang draußen auf und ab - und beruhigte sich schließlich wieder. "Ich wusste, es sind Krankenhäuser in der Nähe, Rettung wäre unheimlich schnell da gewesen." Mit den Kollegen hat er von Anfang an offen über seine Krankheit gesprochen, die meisten reagierten verständnisvoll. "Ich habe gehört, dass manche gelästert haben, ich sei ein Psycho", erzählt er. "Aber das ist mir gleichgültig, ich will heute nicht mehr jedem gefallen, diese Zeiten sind vorbei."

Udo Falke blickt aus dem großen Fenster in den Garten. "Bis zu meinem 43. Lebensjahr habe ich nicht gelebt, sondern nur funktioniert." Er hält einen Moment inne. "Ich habe nicht gemerkt, dass ich auf mich achten, dass ich mir selbst etwas Gutes tun muss. Die Panikattacken waren brutal für mich - aber sie waren mein Glück."

Hintergrund: Angst und Panik - eine gar nicht so seltene Krankheit

Krankheit Viele Menschen erleben in ihrem Leben einzelne Panikattacken. Von einer Panikstörung spricht man, wenn mehrere Panikattacken im Monat auftreten und sich vermehrt eine Angst vor der Angst entwickelt. Diese muss über einen längeren Zeitraum anhalten (mindestens einen Monat) und das tägliche Leben beeinträchtigen.

Verbreitung Laut einer Studie aus den USA von 2005 entwickeln fünf Prozent aller Menschen im Laufe ihres Lebens eine Panikstörung. Die letzte epidemiologische Erhebung in Deutschland fand im Rahmen des Bundesgesundheits-Surveys 1998 statt. Danach leiden 14,2 Prozent der 18- bis 65-jährigen deutschen Bevölkerung in einem Jahr unter einer klinisch relevanten Angststörung.

Symptome Auch ohne Auslöser erleben die Betroffenen Menschen plötzlich intensive Ängste bis hin zu akuter Todesangst. Die Patienten können unter Herzrasen, Schweißausbrüchen, Schwindel, Druckgefühl im Magen und vielem mehr leiden. Hervorgerufen werden diese Symptome durch die Ausschüttung von Adrenalin. Sinkt der Blutspiegel des Fluchthormons nach 15 bis 20 Minuten wieder, werden auch die Symptome schwächer.

Behandlung An diesen Symptomen setzt auch die Psychotherapie an. Dabei wurde für die kognitive Verhaltenstherapie die beste Wirksamkeit belegt. Die Patienten müssen lernen, dass Panikattacken regelmäßig verlaufen - und auch wieder abklingen, ohne dass währenddessen Lebensgefahr besteht. Weiterhin zum Therapiekonzept gehören die Konfrontation mit belastenden Situation sowie das Lernen, dass diese Attacken keine wirklich Gefahr bergen. Daneben lernen die Betroffenen, ihren Körper zum Beispiel durch Atemübungen zu entspannen.

Medikamente Parallel zur Psychotherapie erhalten die Patienten oft ein Psychopharmakon. In der akuten Phase sind Clomipramine und Imipramine wirksam. Erste Wahl sind aber alle Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI), weil sie sowohl in der akuten als auch in der Langzeittherapie verwendet werden können.

Heilung Die Prognose für Patienten ist günstig: 75 Prozent der Patienten, die eine Psychotherapie machen, gelten danach als geheilt - das heißt, sie haben zwar kaum noch Panikattacken, wohl aber Ängste, denn die hat jeder Mensch.

Hilfe Angst-Hilfe e.V., Bayerstraße 77a, 80335 München; www.angstselbsthilfe.de