Die StZ-Podiumsdiskussion zeigt: Der fürchterliche Krieg in der Ukraine macht die Neubesinnung in Energie- und Klimapolitik unabdingbar.

Automobilwirtschaft/Maschinenbau: Matthias Schmidt (mas)

Es gibt die Ziele, auf die sich alle sofort einigen können: Deutschland muss sich von russischer Energie unabhängig machen, die erneuerbaren Energien müssen schneller ausgebaut werden. Und es gibt die ganz praktischen Probleme, die dafür aus dem Weg geräumt werden müssen. Wohl selten wurde die Dimension dieser Probleme so plastisch erörtert wie bei der Podiumsdiskussion, zu der die Stuttgarter Zeitung, die L-Bank und die Unternehmensberatung Roland Berger eingeladen hatten.

 

Beispiel eins: Die Bedeutung der Gasimporte aus Russland, dem Staat, dessen Vorgehen in der Ukraine aus „nacktem Terror“ besteht, wie es Ministerpräsident Winfried Kretschmann beschrieb. „In jeder Sekunde fließen 4500 Kubikmeter Gas aus Russland in die EU“, erläuterte das EnBW-Vorstandsmitglied Georg Stamatelopoulos. „Man muss sich bewusst machen: Das entspricht pro Sekunde zwei voll gefüllten olympischen Schwimmbecken.“ Bei allen Bemühungen um alternative Gaslieferanten: Kurzfristig könne man solche Mengen nicht ersetzen. Ein Embargo oder ein Lieferstopp wären „für die Industrie katastrophal“, so Stamatelopoulos, zudem werde Gas als Rückgrat der Stromproduktion noch auf Jahre hinaus gebraucht, da Wind und Sonne nicht gleichmäßig liefern.

Die Klimasonderbeauftragte fragt: Wann, wenn nicht jetzt?

Zwar stimme das Zielbild der deutschen, klimaneutralen Energiewende, es sei auch realistisch, sagte der EnBW-Vorstand. Mit Grünstrom erzeugter Wasserstoff könne in Flauten von Wind und Sonne eingesetzt werden und dabei das Gas auf lange Sicht ersetzen. Man müsse aber ehrlich sagen: Dies erfordere weltweit den Aufbau von viel Infrastruktur: „Wir werden das nicht in zwei, drei oder fünf Jahren schaffen.“ Für Jennifer Lee Morgan, die Sonderbeauftragte für Klimapolitik im Außenministerium, ist das die Bestätigung ihrer Mission: „Wann, wenn nicht jetzt, wollen wir die erneuerbaren Energien denn ausbauen?“, fragte sie – und zeigte sich überzeugt, dass der Krieg in der Ukraine zu einem Umdenken geführt hat. Jeder wisse jetzt, dass Energiepolitik, Klimaschutz und Friedenssicherung zusammen gehören.

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Beispiel zwei: Der juristische und behördliche Schwergang beim Ausbau der grünen Energien. Acht Jahre brauche es, um eine Photovoltaik-Anlage in den „Verkehrsohren“ eines Autobahnkreuzes zu realisieren, klagte Ministerpräsident Kretschmann. „Dabei gibt es dort überhaupt keine Nachbarn außer Autos.“ Aber die bürokratischen, dem Bundesrecht entspringenden Regeln verzögerten die Umsetzung über jede Gebühr.

290 Millionen Vögel sterben, aber nur 100 000 durch Windräder

Dazu passt Beispiel drei: „Wir müssen endlich die Probleme ins richtige Verhältnis setzen“, so Kretschmann. In der öffentlichen Diskussion gelte Windkraft als großes Problem für den Vogelschutz – völlig zu Unrecht: „Jedes Jahr sterben in Deutschland 290 Millionen Vögel. Davon fliegen 120 Millionen gegen Fensterscheiben, 100 Millionen werden von Katzen erlegt, 70 Millionen kollidieren mit Autos und Zügen, zwei Millionen mit Hochspannungsleitungen und eine Million wird von Jägern geschossen. Gerade einmal 100 000 sterben durch Windräder, und die meisten nicht einmal durch die Rotoren, sondern weil sie gegen die Masten fliegen.“ Um die Genehmigungen zu beschleunigen, müssten jedoch die europäischen Artenschutzregeln geändert werden.

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Durchaus selbstkritisch blickte Kretschmann auch auf die Taskforce der Landesregierung für die Beschleunigung der Verfahren. „Alleine kommt man nicht weit, alles ist eng mit Bundes- und Europarecht verflochten“, sagte der Regierungschef. Dennoch sei er zuversichtlich, dass noch in diesem Sommer bedeutende Fortschritte möglich wären, da alle Ebenen jetzt die Dringlichkeit erkannt hätten.

Vorschlag: Ein Bonus für diejenigen, die Energie einsparen

Der Mannheimer Ökonom Achim Wambach nutzte die Diskussion für eine Mahnung. Auch wenn derzeit die akute Krisenbewältigung im Mittelpunkt stehe, dürfe die Politik die Wirkmacht marktwirtschaftlicher Instrumente nicht vernachlässigen. Ein höhrer Energiepreis etwa führe zu willkommenen Einsparungen. Dieser Effekt könnte aber noch verstärkt werden, wenn Sparsamkeit belohnt würde, beispielsweise mit Bonuszahlungen für Privathaushalte und Unternehmen, die freiwillig weniger verbrauchen.

Es fehle nicht an Erkenntnis, sondern an der Umsetzung, lautete ein Zwischenfazit des Moderators Joachim Dorfs, Chefredakteur der Stuttgarter Zeitung. Am Ende erlaubte sich das Podium noch einen Moment der Zuversicht: „Europa steht so eng zusammen wie nie zuvor“, sagte Kretschmann. Dieser Geist sollte zuversichtlich machen, dass die Klimawende zu schaffen ist, stimmte Jennifer Lee Morgan zu.

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