Was für ein Bild haben auswärtige Slam-Poeten nach der Krawallnacht von Stuttgart? Beim Livesommer am Flughafen trafen sich die Besten ihrer Zunft. Das Publikum im Auto vernahm drei Grundregeln für Menschen im Kessel.

Stadtleben/Stadtkultur: Uwe Bogen (ubo)

Stuttgart - Was will die Menschheit über Stuttgart wissen? Die Google-Anfrage verrät es. Wer das Wort Stuttgart eingibt, sieht im Nu, welche dazu gehörenden Begriffe auf das allergrößte Interesse im WWW, also weltweiten Netz, stoßen. „Stuttgart Randale“ steht mit den meisten Klicks an erster Stelle, gefolgt von „Stuttgart Krawalle“, „Stuttgart 21“ und „Stuttgart Demo“.

 

Und Stuttgart soll mal das blitzblanke und kreuzbiedere Kehrwochenstädtle gewesen sein? Was ist aus unserem seit Jahrzehnten gepflegten Spießerimage geworden? Neuerdings zucken Auswärtige zusammen, wenn sie in Stuttgart ankommen. Vorsichtig schauen sie sich nach allen Seiten um, sobald sie es wagen, einen Fuß in die „Randale-Stadt“ zu setzen.

Der Moderator fasst Sex-Texte jugendfrei zusammen

Aus Bochum, Frankfurt, Fürth, Bensheim, Konstanz und Jena sind die Poeten und Poetinnen angereist, allesamt preisgekrönte Meisterinnen und Meister ihres Fachs. In sicherer Entfernung von Stuttgarter Geschöpfen, die man nicht mehr einzuschätzen wagt, haben sie sich beim Livesommer 2020 in Rollfeld-Nähe auf die Bühne gewagt.

Trifft sich also gut, dass sich das Publikum in Autos eingesperrt hat. Auf diese Weise bleibt eine Nacht safe, keine Superspreader drohen, und Schaufenster, die man einschlagen könnte, gibt’s auf dem Parkplatz 0 des Flughafens obendrein auch nicht.

Marvin Suckut, bei „Best of Poetry Slam“ der Moderator mit der sonoren Stimme, der jeden noch so scharfen Sex-Text jugendfrei zusammenfassen kann, gibt drei Grundregeln für das Leben eines Stuttgarters aus: „Fahrt vorsichtig, hustet in die Armbeuge und demoliert keine Innenstädte.“

Erholung bringt nur was, wenn man ein Foto davon macht

Jean-Philippe Kindler, der Sieger beim Autokino-Slam vom Flughafen, ist mit dem Zug aus Bochum nach Stuttgart gereist. Auf der Königstraße lief er auf und ab, auf jener Einkaufs- und Randalemeile also, die weltweit Schlagzeilen macht. Es amüsiert ihn, dass die Stuttgarter Polizei extra zum Besuch von Horst Seehofer ein demoliertes und bereits entferntes Polizeiauto zurück an den Brennpunkt gestellt hat, damit der Innenminister im schwäbischen Kessel was zu sehen hat. Der 23-jährige Kindler hält nichts von starken Worten, die nun aus der Politik donnern, man müsse stattdessen gewissenhaft und mit Ruhe die Ursachen für Gewalt aufspüren. „Ich glaub’ nicht, dass die Randalierer von Stuttgart die ,taz’ gelesen haben, in der Polizei mit Müll gleichgesetzt wurde, und deshalb zugeschlagen haben“, sagt der Slam-Poet.

Aber der pfiffige Jean-Philippe weiß: Auf Fotos kommt’s an! Ohne Fotos ist nix passiert. Das Foto von Innenminister Seehofer am zerstörten Polizeiauto in Stuttgart ist vielfach gedruckt und gepostet worden. In einem seiner Texte, die den stärksten Hup-Applaus bekommen (bestimmt hat man ihn bis Tübingen gehört), spricht der Bochumer Poet über das Notwendige in Corona-Stresszeiten – über Wellness.

Student Hans säubert die Autoscheiben des Publikums

Erholung bringt nur was, lernen wir, wenn du ein Foto davon machst. Wer im Urlaub was Schönes erlebt, muss es gefälligst auch festhalten! Ohne Instabeweis läuft dein Leben nicht rund. Mist, ich hab’ das landende Flugzeug nicht fotografiert, das direkt hinter der Bühne runtergekommen ist! Dass ich’s gesehen hab’, bring nix, wenn ich damit nicht angeben kann.

Die Kulisse beim Airport-Sommer (noch bis zum 11. Juli, bis zum Finale mit Nena) ist ein Gedicht. Bis zur Alb kann man von hier aus blicken, die Sonne geht urlaubsgleich unter, und fast könnte man meinen, in der „Randale-Stadt“ steckt Poesie. Niemals besteht das Bild einer Stadt nur aus einer Farbe. Wer zu schnellen Urteilen kommt, übersieht womöglich das Wesentliche.

Und deshalb übersehen wir nicht, dass junge Männer in Stuttgart nicht nur Scheiben zerschlagen. Es gibt welche, die sie blitzblank reiben. So einer ist Hans, der Ferienjobber. Im Auftrag eines Sponsors säubert der Student mit Wasser und Wischer beim Livesommer die Fensterscheiben – für die Autofestivalbesucher kostenlos.

Früher saß man beim Poetry-Slam dicht an eng, ein kräftiger Lacher steckte in dieser Nähe auch Miesepeter ruck-zuck mit guter Laune an. Heute stehen die Autofahrer weit auseinander. Hätten die Dichter ihren Wettstreit halt einige Meter weiter veranstaltet – in einem Flugzeug drin. Im Inneren eines Flugzeugs ist der Abstand nicht so wichtig, da hockt man ohne Lücken nebeneinander. Warum dürfen Fluggesellschaften, was andere nicht dürfen? Das Leben war noch nie gerecht. Ungerechtigkeiten sorgen für Unzufriedene – und womöglich auch für „Stuttgart Randale“.