Sieger dieser Entwicklung ist: der Markt. Wenn, wie heute etwa in Aufführungen barocker Opern an Opernhäusern, das Orchester des Hauses unter der Leitung eines Spezialisten und unter Mithilfe historischer Continuo-Instrumente im hochgefahrenen Graben sitzt, dann goutiert das Publikum die kontrastierenden Farben und Lautstärken wie auch die halbimprovisierten Ornamente. Konzerte historisch informierter Ensembles wiederum sind in der Regel gut besucht, weil diese, wie es so schön heißt, „auf der Stuhlkante musizieren“, und die ereignisreichen, mit Kontrasten von Dynamik, Tempo und Klangfarben gesättigten CD-Aufnahmen von ihnen verkaufen sich vergleichsweise blendend.

 

Es gibt also Gründe genug, jungen Menschen heute Mut zu machen, sich in den Spezialistenpool des Alten hineinzubegeben, und das darf man auch deshalb tun, weil dieser Pool bei weitem nicht die Qualitätsprobleme hat, die Goebel geißelt. Mit Einschränkungen allerdings, und bei deren Benennung hat Goebel Recht: Eine allzu frühe Festlegung bei der Ausbildung kann einengen – in der Spieltechnik ebenso wie in der Breite des Wissens und in einem Repertoire, das tatsächlich mehr und besser sein sollte als manches, das nur gespielt wird, weil keiner es kennt, und das dann wirklich bloße „Paradiesvogel-Scheiße“ ist.

Auch heute spezialisieren sich Musiker erst nach einer stilistisch breiten Grundausbildung

Unrecht hat Goebel, wenn er auf allzu frühe Spezialisierung schimpft, denn wie schon vor zwanzig, dreißig Jahren spezialisieren sich junge Musiker heute noch immer meistens erst nach einem breiten Bachelor-Studium, also nach acht Semestern, auf alte Musik. So haben beispielsweise alle Streicher des Freiburger Barockorchesters auf modernen Instrumenten zu spielen begonnen, unterrichten selbst fast ausschließlich Studenten, die eine breite Ausbildung hinter such haben, und tatsächlich hat man nicht nur bei den Freiburger Musikern nie den Eindruck, dass hier bornierte Fachidioten mit spirrigem Ton nur einem verquasten Klangideal ohne Leben und Sinnlichkeit zuarbeiten. Im Gegenteil: Hier sitzen und stehen vitale, wissende Menschen, die Musik nicht nur machen, sondern durchleben – und die Goebels proklamierte Trennung zwischen Instrumenten und Köpfen mit viel Herz aushebeln.

Was wollen wir hören, wen wollen wir hören? Jenseits aller Polemiken, jenseits aller scharfzüngigen Dogmen, Rechtfertigungsneurosen und Rückzugsgefechte geht es eigentlich doch um etwas sehr Schlichtes: Etwas Besonderes soll sich im Konzert ereignen, etwas Berührendes soll in der Musik sein. Das braucht solide Grundlagen (im Umgang mit den historischen Bedingungen der Werke wie im reinen Hand-Werk des Spielens), aber darüber hinaus braucht es, um zu wirken, vor allem eines: Feuer. Es muss ein Funke da sein. Der entsteht nicht ohne Voraussetzungen. Und der verglimmt rasch bei bloßen Selbstdarstellern. Er ist aber die erste, wichtigste Voraussetzung für einen Dialog zwischen Bühne und Saal, Kunst und Publikum, ohne den alle Musik heute nicht lebendig sein und bleiben kann. Schließlich gilt, so viel zu historischen Klängen mittlerweile auch erforscht sein mag, immer noch die Feststellung: Wir wissen, dass wir nichts wissen. Das kann eine schwere Hypothek sein. Oder aber ungemein erleichternd: eine Aufforderung zum Spiel.

Reinhard Goebels Artikel kann man im Internet nachlesen unter: http://www.schott-musikpaedagogik.de/cms/resources /146908993402689a65c2b6a554ff83a11d0c783b56/Goebel_Musikalische_Paradiesvogel_Scheisse.pdf