Seit einem Jahr kämpft ein Bündnis von Wissenschaftlern gegen Denkverbote an den Unis. Kritiker meinen aber: die Intoleranz gibt es gar nicht.

Stuttgart - Julia Fischer ist Verhaltensforscherin am Deutschen Primatenzentrum in Göttingen. Sie untersucht etwa, wie Paviane miteinander kommunizieren. „Seit ein paar Jahren beobachte ich, dass wir alle eine Schere im Kopf haben“, meint sie alarmiert. Wenn auch in der Biologie einen Shistorm fürchten müsse, wer die Existenz biologischer Geschlechter voraussetzt, sagt sie, „dann ist die Disziplin am Ende“.

 

Es sind Beispiele wie diese für eine enger werdende Forschungsfreiheit, die neben Kampagnen gegen Professoren oder gesprengte oder verhinderte Gastvorlesungen die Migrationsforscherin Sandra Kostner aus Schwäbisch Gmünd zusammen mit 70 anderen Forscherinnen und Forschern vor einem Jahr das „Netzwerk Wissenschaftsfreiheit“ gründen ließen. Man müsse sich gegen ein wachsendes Klima der Unfreiheit an den Hochschulen zur Wehr setzen. Ein wachsender „Konformitätsdruck“ führe immer häufiger dazu, „wissenschaftliche Erkenntnis im Keim zu ersticken“, heißt es im Gründungspapier. Inzwischen haben sich 620 Wissenschaftler, darunter auch Physiker und Mediziner, dem Netzwerk angeschlossen. „Ich hätte nicht gedacht, dass wir so schnell wachsen“, meint Kostner.

Debatte mit zunehmender Schärfe

Die Debatte, ob Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit an den Hochschulen in Gefahr sind, wird mit zunehmender Schärfe geführt. Für viele Kritiker ist die ganze Diskussion eine gigantische Übertreibung. Da würden Einzelfälle zusammengetragen, um Ängste vor behaupteten Freiheitsverlusten heraufzubeschwören. „Ich sage nicht, dass es überhaupt keine Probleme gibt. Aber zu behaupten, wir hätten ein großes Problem mit der Wissenschaftsfreiheit, ist nicht gedeckt“, meint etwa die Literatur- und Genderforscherin Andrea Geier von der Universität Trier. Da werde die Wissenschaftsfreiheit als Kampfbegriff politisch instrumentalisiert. In ihren Augen handelt es bei dem Streit in Wahrheit um „wissenschaftsinterne Verwerfungen darüber, wer Einfluss hat“. Kostner hält dem entgegen, dass es sich bei der Wissenschaftsfreiheit um ein Grundrecht handelt. Dem Netzwerk geht es gerade darum, dieses vor politischer Instrumentalisierung zu schützen.

Immer dieselbe Diskreditierung

Immer wieder ist zu hören, dass objektive Daten für den nicht nur in USA entbrannten Kulturkampf um die freie Rede an Unis fehlen. Doch Sandra Kostner widerspricht. Es gebe „ziemlich viele“ anekdotische Belege. Auch hätten sie mehr als 2000 Zuschriften erreicht. Darin gehe es etwa um Beschwerden über Kollegen. „Dabei wird immer mit denselben Diskreditierungsvokabeln hantiert: Etwas sei ,rassistisch‘, ,sexistisch‘ oder ‚anschlussfähig an rechte Diskurse‘.“

Bestätigung erhalten Kostner und ihr Netzwerk auch durch eine aktuelle repräsentative Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach im Auftrag des Deutschen Hochschulverbands und der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung unter Dozenten und wissenschaftlichen Mitarbeitern vom Herbst 2021: Demnach sehen sich 40 Prozent durch „formelle oder informelle Vorgaben der Political Correctness“ in der Lehre eingeschränkt. Das sind fast zehn Prozent mehr als bei der Befragung 2019/2020. Von 13 auf 18 Prozent nahm der Anteil der Wissenschaftler zu, die beklagen, dass sie wegen derlei Vorgaben bestimmten Forschungsfragen nicht nachgehen könnten. Am stärksten werden diese Einschränkungen in den Geistes- und Naturwissenschaften empfunden.

Gibt es biologische Geschlechter?

Das rigide Meinungsklima scheint aber auch vor den Naturwissenschaften nicht Halt zu machen. Bei einer Onlinediskussion über die Vielfalt des biologischen Geschlechts, erinnert sich Verhaltensforscherin Fischer, wurden die Teilnehmer gewarnt, dass wer unangemessene Begriffe verwende, aus der Konferenz hinausgeworfen werde. „Die Bereitschaft, Repressionen auszuüben, ist gewachsen“, so Fischer.