Ankara soll den Bürgerrechtler Osman Kavala bis Ende November freilassen – sonst droht der Rauswurf aus dem Europarat. Die Entscheidung könnte zum Präzedenzfall für andere politische Häftlinge werden.

Ankara - Die Türkei riskiert den Rauswurf aus dem Europarat: Wenn die türkische Justiz den inhaftierten Bürgerrechtler Osman Kavala nicht bis Ende November freilässt, will die Organisation zur Durchsetzung der Menschenrechte in Europa ein Ausschlussverfahren gegen Ankara einleiten. Die Türkei ist erst das zweite Land in der mehr als 70-jährigen Geschichte des Europarats, dem mit dem Ausschluss gedroht wird. Die Entscheidung ist eine politische Ohrfeige für Präsident Recep Tayyip Erdogan und könnte Auswirkungen auf das Schicksal anderer politischer Häftlinge in der Türkei haben.

 

Kavala wurde vor vier Jahren verhaftet.

Der 63-jährige Unternehmer Kavala hatte sich bis zu seiner Festnahme vor fast vier Jahren mit einer Stiftung um das kulturelle Erbe Anatoliens und seiner Minderheiten wie Kurden und Christen gekümmert. Bei vielen Projekten war er ein Partner europäischer Organisationen, doch Erdogan betrachtet ihn als Staatsfeind. Der Präsident beschuldigt Kavala, die Gezi-Proteste von 2013 finanziert zu haben und am Putschversuch von 2016 beteiligt gewesen zu sein. Beweise dafür gibt es nicht: Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg urteilte vor zwei Jahren, die Türkei halte Kavala nur in Haft, um ihn zum Schweigen zu bringen, und forderte seine Freilassung.

Obwohl sich die Türkei als Mitglied des Europarats an die Urteile des Gerichtshofes halten muss, sitzt Kavala weiter in Haft. Der Ministerausschuss des Europarates, der die Umsetzung der Urteile kontrolliert, hatte deshalb im Juni erstmals mit einem Ausschlussverfahren gegen Ankara gedroht. Am Freitag setzte der Ausschuss der Türkei ein Ultimatum: Das Gremium will bei seinem Treffen vom 30. November bis zum 2. Dezember das Ausschlussverfahren in Gang setzen, wenn Kavala bis dahin nicht frei ist.

Gelegenheit zur Freilassung wäre der nächste Prozesstermin

Eine Gelegenheit zur Freilassung wäre der nächste Prozesstermin gegen Kavala am 8. Oktober. Wenn Kavala dann nicht freikomme, sei das Ausschlussverfahren gegen die Türkei nicht mehr aufzuhalten, schrieb die Anwältin und Europarechts-Expertin Tugce Duygu Köksal auf Twitter. In politischen Prozessen wie dem gegen Kavala steht die türkische Justiz unter dem Einfluss der Regierung. Erdogan hat mehrfach erklärt, dass Kavala hinter Gitter bleiben soll.

Folgerichtig müsste sich die Türkei zwischen der Haft und der Mitgliedschaft im Europarat entscheiden. „Die Türkei bewegt sich hart an der Kante“, sagte der SPD-Menschenrechtspolitiker Frank Schwabe unserer Zeitung Er plädierte dafür, dass die Türkei im Europarat bleiben solle. „Dafür muss sie Kavala aber als erstes umgehend freilassen. Dazu gibt es keinerlei Alternative.“

Ankara müsse die Freilassung oder die „Schande“ eines Ausschlussverfahrens in Kauf nehmen, erklärte Nils Muiz, der Europa-Direktor von Amnesty International. Auch im Fall des inhaftierten Kurdenpolitikers Selahattin Demirtas erhöhte der Europarat am Freitag den Druck auf die Türkei und forderte einen Maßnahmenplan bis zum 30. September. Demirtas wird wie Kavala in Haft gehalten, obwohl der Menschenrechtsgerichtshof seine Freilassung verlangt.

Rauswurf wäre schwerer Rückschlag

Ein Rauswurf aus dem Europarat wäre ein schwerer Rückschlag für das internationale Renommee der Türkei. Bisher hat der Europarat erst ein Mal den Ausschluss eines Mitgliedes eingeleitet. Auch dabei ging es um die Haft für einen Regierungsgegner: Aserbaidschan weigerte sich, den Oppositionspolitiker Ilgar Mammadow freizulassen, wie der Menschenrechtsgerichtshof es verlangt hatte. Die Regierung in Baku lenkte schließlich ein und entging dem Rauswurf.

Nun wird sich auch die türkische Regierung entscheiden müssen. Mit Kavalas Freilassung würde sich Ankara internationalen Rechtsnormen beugen. Eine solche Entscheidung könnte zum Präzedenzfall für andere politische Häftlinge werden, die europäischen Regeln zum Trotz im Gefängnis sitzen. Auch Demirtas, der frühere Chef der Kurdenpartei HDP, könnte dann auf eine Freilassung vor den Wahlen 2023 hoffen.