Kein Thema hat das zweite Halbjahr in Deutschland so sehr bestimmt wie das Flüchtlingsdrama. Allein der islamistische Terror kann sich für kurze Zeit in den Vordergrund schieben.

Politik/ Baden-Württemberg: Christian Gottschalk (cgo)

Stuttgart - Der Abschied von Gregor Gysi als Fraktionschef der Linken, das Ende der Einkind-Politik in China und der Tod von Helmut Schmidt: es gab viele bedeutende politische Ereignisse im zwischen August und Dezember 2015. Aber alle Einzelereignisse wurden überlagert von zwei Großthemen, die eng miteinander verbunden sind: der Terror des Islamischen Staates und die Flüchtlingswelle.

 

4. August – Premiere in der Justizgeschichte

In der deutschen Justizgeschichte gab es so etwas noch nicht. Der Generalbundesanwalt gerät unter Beschuss, nachdem bekannt wurde, dass er gegen Journalisten ermittelt hat, angeregt durch das Bundesamt für Verfassungsschutz.

Harald Range wird vom Justizminister getadelt – und gibt nicht klein bei. Im Gegenteil. Er widerspricht. Am Ende muss Range gehen. Es gibt Untersuchungen und Ausschüsse. Und es bleibt ein schaler Verdacht, dass auch Justizminister Maas und der Chef der Verfassungsschützer nicht immer korrekt gehandelt haben.

4. September – Merkel öffnet die Grenze

Später, im Winter, wird Angela Merkel von einem humanitären Imperativ sprechen. Jetzt, zum Ende des Sommers, lässt die Kanzlerin die Grenzen zu Österreich fallen. Die Brennpunkte der medialen Aufmerksamkeit haben sich verschoben.

Drama an der mazedonischen Grenze, Drama an der serbischen Grenze, Zaun an der ungarischen Grenze – und im zunehmenden Verlauf des Geschehens an anderen Grenzen auch – so ging es zu, im Sommer. Nun stehen Hunderttausende vor Deutschland, und Angela Merkel lässt sie hinein. Kein Thema wird das Jahr so sehr dominieren wie die Flüchtlinge, nicht einmal der Terror. Merkel wird ihren Kurs später revidieren. Gefeiert wird sie für das eine und das andere.

30. September – Die Russen kommen

Wladimir Putin greift in Syrien ein. Nicht mit dem Westen zusammen, sondern auf eigene Faust. Die Konsequenz spürt sein Volk fast auf dem Fuß. Wenige Wochen später wird ein russischer Ferienflieger Ziel eines Anschlags.

Die Türkei, die in Syrien andere Interessen vertritt, holt am Jahresende einen russischen Kampfflieger vom Himmel. Es kommt zum Kampf der Worte und zum Handelskrieg zwischen Moskau und Ankara. Sanktionen, wieder mal.

10. Oktober – Der Pascha vom Bosporus

Ein Anschlag erschüttert Ankara. 100 Tote bei einer friedlichen Demonstration. Präsident Erdogan hat die Welt auch erschüttert, davor und danach. Im Frühsommer bei der Wahl hatte Erdogan nicht das gewünschte Ergebnis erzielt. Er wiederholt die Wahl, nun klappt es. Demokratie sieht anders aus.

Der türkische Führer führt mit harter Hand. Nach innen und nach außen. Europa kritisiert nicht, sondern bietet Gespräche an. Man braucht die Türken in der Flüchtlingsfrage.

29. Oktober – Das Ende eines Dogmas

Die Nachricht war erst wenige Sekunden alt, da sind die sozialen Medien des Landes mit Familienfotos geflutet worden. Mama, Papa – und zwei Kinder. Seit 1979 war das in China verboten, auch wenn es zuletzt immer mehr Ausnahmen von der Regel gab.

Nun nicht mehr. Chinas Alte haben keine Jungen mehr, die sie versorgen. Ein riesiges Problem. Das gibt es auch, wenn 1,4 Milliarden Menschen essen, reisen, einkaufen wollen. Bald werden es noch mehr.

13. Oktober – Zwei für einen

Die Linke in Deutschland – das ist vor allem Gregor Gysi. Der Mann ist omnipräsent. 1,63 Meter geballte Energie. Er sitzt in jeder Talkshow und wartet mit zum Teil provokanten Thesen zu jedem Thema auf. Er ist aber auch in den Schulen des Landes ein gern gesehener Gast, wenn Lehrer ihren Schülern einen der Großen aus der Berliner Politszene bieten wollen.

Gysi kommt, hat keine Berührungsängste. Die hat er höchstens bei den Parteifreunden. Als Doppelspitze war der Mann, der noch immer gegen den Vorwurf kämpft, für die Staatssicherheit der DDR gearbeitet zu haben, nicht zu haben. Ein kleiner Alleinherrscher. Künftig führen Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch die Bundestagsfraktion. Der Fernsehzuschauer, so viel sei prognostiziert, wird auf Gysi nicht verzichten müssen.

29. Oktober – Das Ende eines Dogmas

Die Nachricht war erst wenige Sekunden alt, da sind die sozialen Medien des Landes mit Familienfotos geflutet worden. Mama, Papa – und zwei Kinder. Seit 1979 war das in China verboten, auch wenn es zuletzt immer mehr Ausnahmen von der Regel gab.

Nun nicht mehr. Chinas Alte haben keine Jungen mehr, die sie versorgen. Ein riesiges Problem. Das gibt es auch, wenn 1,4 Milliarden Menschen essen, reisen, einkaufen wollen. Bald werden es noch mehr.

6. November – Hilfe beim letzten Gang

Kein Profit mit dem Tod. Es ist viel debattiert worden über das neue Gesetz zur Sterbehilfe. Und das Parlament hat getan, was es vielleicht viel öfter machen sollte: es hat den Fraktionszwang aufgehoben und den Abgeordneten erlaubt, alleine ihrem Gewissen zu folgen.

Am Ende steht ein Gesetz, das all die Sterbehilfevereine verbietet, die mit dem Tod Kasse machen. Unklar bleibt, was für Auswirkungen die Paragrafen auf Ärzte haben, vor allem auf Palliativmediziner. Die Diskussion ist mit der Abstimmung ganz sicher noch nicht beendet.

10. November – Abschied von Helmut Schmidt

Für viele Menschen war er der beste Kanzler, den Deutschland je hatte. Allen Rauchern diente er als Aushängeschild für Langlebigkeit. Schmidt war Kanzler, Autor, Weltenkenner. Er wird 96 Jahre alt.

Viele politische Weggefährten von einst können da nicht mehr den Staatsakt besuchen. Alle, die kommen, sind tief bewegt. Und in Hamburg gibt es nun eine Diskussion darüber, ob der örtliche Flughafen nach dem fünften Kanzler der Bundesrepublik benannt werden soll.

13. November – Je suis Paris

Und wieder der Terror. Und wieder Paris. Noch monströser als im Januar, noch mehr Tote. Islamisten bringen mehr als 130 Menschen um, darunter viele junge Konzertbesucher.

Es rollen eine Welle des Mitgefühls nach Paris und viele Zusagen zu konkreter Unterstützung, als Präsident Hollande erklärt, er wolle den Islamischen Staat entschieden bekämpfen.

4. Dezember – Im Krieg gegen den IS

1200 Soldaten sollen den internationalen Kampf unterstützen, der sich gegen die Terroristen des Islamischen Staates richtet. Das entscheidet der Bundestag. An der Seite von Frankreich und den USA werden deutsche Flugzeuge fliegen, der russische Einsatz in Syrien bleibt außen vor. Keine Koordination. Wie das mit Saudi-Arabien wird, ist unklar.

Zwei Wochen später plant Riad einen Einsatz mit Partnern aus der Region – wahrscheinlich unter eigenem Oberbefehl. Syrien bleibt nicht der einzige Ort, an dem deutsche Soldaten in den Krieg ziehen. Die Missionen der Bundeswehr in Afghanistan und im afrikanischen Mali werden erweitert.

12. Dezember – Der Vertrag steht

Es ist ein Vertrag. Bundesumweltministerin Barbara Hendricks hat Freudentränen im Gesicht. Vertreter aus 196 Ländern haben beschlossen, das Weltklima zu retten. Das sagt sich so leicht, es lässt sich schon nicht mehr so einfach niederschreiben. Und ob die gefassten Beschlüsse nachher tatsächlich ausreichen, um den Anstieg der Erdtemperatur zu begrenzen, das weiß seriöserweise niemand zu sagen. Aber es besteht Hoffnung.

Große Worte fallen, vom „historischen Moment“ und vom „Meilenstein“ ist die Rede. Kleinkrämer beginnen sofort zu rechnen, was die Beschlüsse den Verbraucher kosten. Billig, das ist klar, wird das alles nicht.

8. Dezember – Die Fast-Aussage

Der NSU-Prozess in München ist das längste Verfahren in der deutschen Rechtsgeschichte. Mehr als 250 Verhandlungstage schon, und immer eine schweigende Angeklagte. Nun die Wende, die gar keine Wende ist. Beate Zschäpe sagt aus, besser: sie lässt aussagen.

Ob sie sich damit hilft? Viele bezweifeln das. Ob es den Prozess zu einem Ende bringt? Das bleibt offen. Die Fast-Aussage war eine Überraschung des neuen Anwalts. Nicht auszuschließen, dass der noch eine bereithält.