Zwei Polizisten starben, drei weitere wurden verletzt: Am 8. August 1989 stach ein Mann in Gaisburg mit einem Bajonett wild um sich, als er festgenommen werden sollte. Am Freitag erinnert die Polizei an die Bluttat vor 25 Jahren, die damals ganz Stuttgart erschütterte.

Lokales: Christine Bilger (ceb)

Stuttgart - Auf der Schleife des Kranzes hat nur ein Wort gestanden: „Warum?“ hatten die Kollegen aufdrucken lassen. Polizeibeamte bringen das Gebinde zur Gaisburger Brücke. Auch ohne die Schleife war diese Frage bei allen präsent: Warum? Warum müssen am Morgen des 8. August 1989 zwei Polizeibeamte sterben, zwei weitere lebensgefährlich verletzt ins Krankenhaus gebracht werden? Der Polizistenmord von Gaisburg jährt sich am Freitag zum 25. mal. Ein Asylbewerber dreht durch, als er festgenommen werden soll, und sticht mit einem Bajonett um sich. Warum, das können die Ermittler bis heute nur vermuten. Frederic Otomo, der Täter, starb auch an der Gaisburger Brücke. Die angegriffenen Polizisten erschossen ihn.

 

Joachim Lohmüller war einer der sechs Beamten am Tatort. Er meint, er habe Glück gehabt oder die meiste Erfahrung. „Eines davon, ich weiß es nicht“, sagt der 59-jährige Beamte. Als Frederic Otomo auf der Brücke amokartig um sich stach, schlitzte er vier Polizisten mit einem Bajonett regelrecht auf. Die Beamten Peter Quast und Harald Poppe, 28 und 27 Jahre alt, starben. Lohmüller erlitt eine kleine Wunde an der Schläfe, die Narbe sieht man heute kaum mehr. „Ich weiß nicht, warum ich so wenig abbekommen habe. Aber ich habe auch aufgehört, mich das zu fragen“, sagt er. Nach der Tat gab es für ihn nur eines: „So schnell wie möglich zurück in den Dienst, zu meinen Kollegen.“ Der Arzt riet ihm auch dazu. Nach gut einer Woche ging Lohmüller wieder auf Streife, wieder im Osten, wieder an der Gaisburger Brücke. „Nur einmal hatte ich ein mulmiges Gefühl. Als eine Meldung kam, dass auf der B 10 ein Taxifahrer mit einem Messer bedroht wird“, erzählt Lohmüller. Der Chef im Revier Hornbergstraße tat das einzig Richtige: „Du bleibst da“, sagte der Vorgesetzte und schickte eine andere Streife.

Angefangen hat alles mit einer Fahrkartenkontrolle

Das Blutvergießen hatte am Morgen kurz nach 6 Uhr mit einer routinemäßigen Fahrkartenkontrolle in der Stadtbahn zwischen den Haltestellen Schlachthof und Wangener/Landhausstraße begonnen. Frederic Otomo geriet darüber in Streit mit dem Kontrolleur, schlug ihn und rannte davon. Die SSB verständigten die Polizei, über Funk ging eine Fahndung an alle Streifenwagen. Knapp drei Stunden später – die Fahndung war gegen 7 Uhr schon wieder eingestellt worden – sahen Peter Quast und Harald Poppe den Mann, auf den die Beschreibung passt, an der Brücke. Sie hielten an, wollten ihn kontrollieren. Weil er sich weigerte, forderten sie Verstärkung an. Am Ende waren sechs Polizeibeamte vor Ort, fünf standen bei Otomo, einer saß im Auto. Als sie Otomo zum Fahrzeug bringen wollten, zückte er das Bajonett, das er die ganze Zeit unter einer Zeitung in der Hand gehabt hatte. Zwischen einem Funkspruch des Beamten im Auto, der meldet, man würde den Mann nun auf die Wache bringen, und seinem Hilferuf, weil die Kollegen und der von den Polizisten erschossene 46-jährige Otomo in Blutlachen am Boden liegen, vergehen 15 Sekunden.

„Diese Bild begleitet mich mein Leben lang. Peter Quast lag tot auf dem Gehweg, so wie ihn die Sanitäter und Ärzte zurückgelassen hatten, mit Medizinmaterial rundherum“, sagt Volker Haas, damals Polizeipräsident in Stuttgart. In der Zeit nach dem Schock sei alles „ruhig und in geordneten Bahnen“ gelaufen, sagt Haas. Am Anfang war nur der Schock und die professionelle Ruhe, die die Polizei weiter funktionieren ließ. „Das Entsetzten kam später, wie ein Blitzschlag.“ Trauer war Privatsache, sagt Haas. „In einem Präsidium fließen keine Tränen. Wenn die Eltern des toten Kollegen weinen, kann man nicht auch heulen.“

Nach der Tat, so schildert Haas, sei es auch relativ normal weitergegangen. „Es gab kein Problem der Sicherheitslage, und in der Polizei gab es keine Ausländerfeindlichkeit“, betont er. „Es war das Problem eines einzelnen Menschen, es hätte jeden treffen können.“ Die berühmten Worte des Oberbürgermeisters Manfred Rommel, „Es hätte auch ein Schwabe sein können“, fand Haas problematisch. „Das war gut gemeint, aber die Leute haben es nicht verstanden.“

Die Frage nach dem Warum stellt sich bis heute

Auch Michael Kienzle, damals Grünen-Stadtrat, gibt die Stimmung in der Stadt so wieder: „Es haben schnell alle verstanden, dass das die Tat eines Mannes mit psychischen Problemen war. Niemand reduzierte den Täter, der ein verzweifelter Mensch gewesen sein muss, auf seine Hautfarbe.“

„Ich habe die Akte zu dem Fall nie gelesen“, sagt Joachim Lohmüller, der heute Jugendsachbearbeiter im 2. Revier ist. Er habe ein paar Sitzungen für Polizisten mit traumatischen Erlebnissen besucht, dann habe er sich dort abgemeldet. „Ich habe das mit mir ausgemacht.“ Als der Fall zehn Jahre nach der Tat als Spielfilm Otomo in die Kinos kam, ging Lohmüller in eine Vorstellung. „Aber ich erinnere mich gar nicht daran“, sagt er. Gedenkfeiern blieb er bisher fern. „Ich habe es nicht so mit solchen Veranstaltungen.“ Dieses Mal kommt er. Abgeschlossen habe er mit dem Erlebnis, sagt er. Zum Abschluss seiner Laufbahn erweist er den Opfern, seinen Kollegen, die Ehre.

Am Freitagmorgen um kurz nach 9 Uhr begegneten die Polizisten Quast und Poppe vor 25 Jahren ihrem Mörder. An diesem Freitag treffen sich die Kollegen kurz nach 9 Uhr an der Gaisburger Brücke, um der Toten zu gedenken. Die Frage nach dem Warum tragen sie dabei noch immer mit sich.