Billie Eilish ist 17 und hat auf Instagram mehr Follower als Donald Trump. Ihr Debütalbum „When We All Fall Asleep, Where Do We Go?“ steckt voller düsterer Popfantasien und ist viel zu gut, um es kreischenden Teenies zu überlassen.

Freizeit & Unterhaltung : Gunther Reinhardt (gun)

Stuttgart - Auf einmal hat sich das kleine Mädchen in ein Nachtgespenst verwandelt, lauert einem unter dem Bett auf, wird zu jenem Ungeheuer, das der Schlaf der Vernunft gebiert. Billie Eilish kriecht flüsternd, seufzend, jammernd durch das unheimlich blubbernde Schlaflied namens „Bury A Friend“, hangelt sich an einem nervös-geheimnisvoll tuckernden Elektro-Shuffle-Beat entlang, zerrt darunter einen hypnotischen Singsang hervor, der unruhig träumen lässt. Wohin gehen wir, wenn wir einschlafen, fragt Eilish, verstört und betört einen gleichermaßen in diesem düster eingefärbten Lied über Verlust, Trauer und Selbstfindung, bei dem auch Hamlet vorbeihuschen darf: „Sterben, schlafen, schlafen, vielleicht träumen“.

 

Der größte Teenie-Hype seit Justin Bieber

„Bury A Friend“ ist ein Song, auf den sich gerade alle einigen können sollten – depressiv veranlagte Teenager ebenso wie dauerskeptische Popkritiker. Und Billie Eilish, die hinter diesem Lied steckt, ist die Popsensation der Saison.

Zumindest für Menschen, die die Pubertät schon ein paar Jahre hinter sich haben und deshalb erst jetzt auf diese hochbegabte Popkünstlerin aus Los Angeles aufmerksam werden. Denn der Hype um Billie Eilish wirbelt das Internet schon seit ein paar Jahren ziemlich heftig durch. Eigentlich schon seit November 2015, als sie den Song „Ocean Eyes“ auf Soundcloud veröffentlichte, den ihr älterer Bruder Finneas O’Connell für sie geschrieben hatte.

Damals war Billie Eilish 13. Inzwischen ist sie 17, schreibt ihre Lieder lieber selbst und hat über 14 Millionen Abonnenten auf Instagram. Ihr Debüt „When We All Fall Asleep, Where Do We Go?“, das an diesem Freitag erscheint, wurde bei Apple Music denn auch bereits 800 000 Mal vorgemerkt. Seit Justin Bieber hat kein Teenager mehr so viele andere Teenager in Aufruhr versetzt.

Allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, dass Billie Eilishs emotional aufgeladener Mix aus Hip-Hop, Avantgarde, Pop und Teenie-Schwermut viel zu gut ist, um damit nur Kinderzimmer zu beschallen. Denn obwohl hier jemand seine eigene Pubertät, seine eigenen Unsicherheiten vertont, sind bereits die Lieder von Billie Eilish 2017 erschienener EP „Don’t Smile At Me“ kein Kinderkram, sondern grandios inszenierte Popfantasien: Das sich fies um einen Beat schlängelnde „Copycat“ zum Beispiel, das niedlich-gemeine Ukulele-Lied „Party Favor“, die Ballade „idontwannabeyouanymore“, in der sie von Tränen erzählt, die ganze Swimmingpools füllen können, oder die gefährlich zuckende Brandstifter-Ode „&burn“, bei der Vince Staples als Gast zu hören ist – Songs, die schon damals erahnen ließen, was man noch alles von Billie Eilish zu erwarten ist.

Live fehlt ihren Songs noch die alptraumhafte Eindringlichkeit

Nein, auch als Erwachsener muss man sich nicht schämen, diese Musik gut zu finden. Auch wenn man dazu bereit sein muss, sich dafür unter Teenager zu wagen. Etwa als Billie Eilish Anfang Februar in Berlin ihre Welttournee begann, als der Hype um dieses wild-traurige Mädchen endgültig Deutschland erreichte – und die Teenager der Stadt am späten Abend in Prenzlauer Berg entweder draußen mit ihren Ohren an den Wänden des Kesselhauses klebten oder drinnen kreischend ihre Handys in die Höhe streckten und jede Textzeile mitsangen.

Beim natürlich ausverkauften Auftritt in Berlin spielte sie tatsächlich „Bury A Friend“ zum allerersten Mal überhaupt live. Und so sehr man sich darüber freute, dass Eilish offenbar doch nicht das somnambule Gothic-Girl ist, das man aus den Videos kennt, sondern ein überdrehtes, langhaariges Mädchen, das im viel zu großen T-Shirt über die Bühne rennt, zappelnd tanzt und sich über die Begeisterung des Publikums freut, so deutlich verloren einige ihrer Songs doch in der Liveinszenierung etwas von ihrem dunklen Zauber, von ihrer alptraumhaften Eindringlichkeit.

Mehr als nur ein Coming-of-Age-Soundtrack

Irgendwo zwischen Lana Del Rey und St. Vincent, zwischen Dark Wave und Bubblegum Pop findet Billie Eilish auch jetzt auf dem grandiosen Debütalbum „When We All Fall Asleep, Where Do We Go?“ ihre musikalische Lücke, nicht nur in „Bury A Friend“, füllt sie mit Zittern, Wabern, Blubbern sowie einer Überdosis Larmoyanz und Aufmüpfigkeit.

Da gibt es Platz für fies zickende und von Selbstbewusstsein strotzende Elektropop-Rabauken wie „You Should See Me In A Crown“, für empfindsam-labile Stimmungsbilder wie „When The Party’s Over“, für sensationell dekorierte und mit entzückender Grandezza vorgetragene Popballaden wie „I Wish You Were Gay“, für vertrackte Beats, dumpfe Bässe, großartige Melodien, poetische Tiefe und Vieldeutigkeit.

Die machen das Album zu viel mehr als einem Coming-of-Age-Soundtrack, sie lassen einen hoffen, das dieses umtriebige Nachtgespenst namens Billie Eilish uns noch viele wunderbare Albträume bescheren wird.

Billie Eilish: When We All Fall Asleep, Where Do We Go? (Interscope/Universal) erscheint am Freitag, 29. März