Wegen der Corona-Krise werden in der Hauptstadt in Windeseile neue Radwege eingerichtet – damit mehr Abstand gehalten werden kann. Autofahrer haben das Nachsehen. Doch die Idee stößt auch international auf Interesse.

Berlin - Berliner Autofahrer sind nicht unbedingt für ein zurückhaltendes Wesen bekannt. Derzeit haben sie reichlich Anlass zum Dampfablassen. In der Hauptstadt geht nämlich gerade eine erstaunliche Verwandlung vor sich. Die Verkehrsbehörden, sonst eigentlich jeder Hyperaktivität unverdächtig, wandeln derzeit in bemerkenswerter Zügigkeit quer durch die Stadt Fahrspuren oder Parkflächen in Fahrradwege um. Dazu braucht es nicht viel: Klebeband, ein paar aufgemalte Piktogramme und Grenzen markierende Baken – fertig ist der „Pop-up-Fahrradweg“, wie die neuen Wege genannt werden – vom englischen „pop up“, was so viel wie „hochschießen“ oder „schnell auftauchen“ bedeutet.

 

Die Radwege kosten wenig

Mitte der Woche hat die Verkehrsverwaltung des Senats eine erste Bilanz vorgelegt. Über elf Kilometer neuer Wege sind schon umgesetzt, etwa die gleiche Strecke ist in Arbeit. Darunter sind prominente Areale. So sind Teile der Frankfurter Allee schon für Radler reserviert, bald soll es auch entlang der Kantstraße in Charlottenburg mehr Platz für Radfahrer geben. Die Maßnahmen sind nicht nur schnell vorzunehmen, sie sind auch vergleichsweise billig. Bislang sind Kosten von rund 100 000 Euro entstanden. Kein Bezirk ist dabei so eifrig wie Kreuzberg-Friedrichshain, politisch so etwas wie das grüne Herz der Stadt. Am 25. März entstand am Halleschen Ufer europaweit die erste „Pop-up-Bikelane“, was offenbar schöner klingt als provisorischer Fahrradweg. Treibende Kraft hinter dem Kreuzberger Aufbruch ist Felix Weisbrich. Der 47-Jährige ist seit 2019 Leiter des Straßen- und Grünflächenamtes des Bezirks.

Weisbrich begründet die Initiative mit der Corona-Pandemie. Einerseits werde der öffentliche Nahverkehr aus Sorge vor Ansteckungen dramatisch weniger genutzt. Und bei einem verstärkten Fahrradaufkommen könnten die Verkehrsteilnehmer die Schutzabstände nicht halten. Es geht also offiziell um Gesundheitsschutz. Aber nicht nur. Weisbrich will ein Angebot schaffen, damit nicht alle ins Auto steigen, die bisher Bus und Bahn benutzt haben. Dann stünde Berlin „im Dauerstau“, sagt Weisbrich.

Viele Berliner haben gar kein Auto

Staus bleiben dennoch ein Thema. Wenn eine Fahrspur den Radlern gegeben wird, parkt der Lieferverkehr oft in zweiter Reihe. Und der Verkehr verengt sich. Weisbrich ficht das nicht an. „Berlin hat schon vor Corona im Stau gestanden“, sagt er. Kritiker werfen den Planern vor, hier werde die Pandemie nur zum Vorwand genommen, um den Autofahrern den Kampf anzusagen. Tatsächlich folgt die Ausweisung der Radwege einer längst beschlossenen Strategie. Das Berliner Mobilitätsgesetz legte schon 2018 fest, dass bei allen Verkehrsplanungen der öffentliche Nahverkehr (ÖPNV), das Rad und die Fußgänger Vorrang haben müssen. Als Folge sollen alle Hauptverkehrsstraßen sichere Radwege erhalten. Die Planer argumentieren mit Zahlen: 43 Prozent der Berliner Haushalte haben gar kein eigenes Auto. Ein Drittel aller Wege in der Hauptstadt werden mit dem ÖPNV, dem Rad oder zu Fuß zurückgelegt. Die Flächenverteilung ist aber umgekehrt. Was Felix Weisbrich zu pathetischen Formulierungen wie diesen verleitet: „Wir stellen Flächengerechtigkeit her.“

Aus dem Ausland gibt es Anfragen

Tatsächlich macht das Berliner Beispiel derzeit international Schule. Im Kreuzberger Rathaus berichtet man von sehr interessierten Anrufen etwa aus Dänemark und den Niederlanden. Brüssel und Paris haben inzwischen ähnliche Projekte in Angriff genommen. In Deutschland gehört München zu den Nachahmern.

Da ist etwas in Gang gekommen, das ganz sicher über die Corona-Zeit hinausreichen wird. Jedenfalls in Berlin. Im August läuft ein mehrmonatiger Versuch an, die Friedrichstraße in wesentlichen Teilen autofrei zu gestalten. Auch bei den Pop-up-Radwegen soll es nicht bleiben. „Wenn wir von provisorischen Mitteln sprechen, heißt das nicht, dass die Wege wieder verschwinden sollen“, sagt Jan Thomsen, der Sprecher von Regine Günther, der grünen Senatorin für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz. „Da werden möglichst bald dauerhafte Befestigungen vorgenommen.“