Die Öffentlichkeit steckt in einem verschärften Strukturwandel. Populisten nehmen es mit der Wahrheit oft nicht so genau, erfundene Nachrichten werden millionenfach geklickt. Das wird so schnell nicht aufhören. Aber man kann verstehen, wo es herkommt – und was gegen Fake News hilft .

Digital Desk: Jan Georg Plavec (jgp)

Stuttgart - Lügenpresse, Hate Speech, Filterblase, Fake News – 2016 war geprägt von einer radikal veränderten digitalen Debattenkultur in der westlichen Welt. „Postfaktisch” ist mit gutem Recht jüngst zum „Wort des Jahres” gekürt worden.

 

2016 zog die AfD in fünf deutsche Länderparlamente ein, die Briten stimmten für den EU-Austritt, Donald Trump wurde US-Präsident. All diese Machtentscheidungen waren auch ein Ergebnis davon, wie jetzt über Politik diskutiert wird. Die politische Öffentlichkeit hätte sich in diesem Jahr kaum stärker vom Habermas’schen Idealbild eines aufgeklärten Wettstreits rationaler Argumente entfernen können. Stattdessen beschreiben Vokabeln wie „postfaktisch” und „Fake News” einen verschärften Strukturwandel der Öffentlichkeit: Es gibt nicht mehr die eine öffentliche Arena, in der über politische Lösungen für ein allgemein erkanntes Problem diskutiert wird. Stattdessen kann man sich immer häufiger nicht darauf einigen, was das Problem ist – und somit erst recht nicht zu einer von allen anerkannten Lösung kommen.

Noch vor kurzem war es tabu, in politischen Debatten ohne nachweisbare faktische Grundlage zu argumentieren. Wer es doch tat, wurde meist nicht für voll genommen. Populisten wie Nigel Farage, Marine Le Pen, Björn Höcke oder Donald Trump scheren sich nicht um solche Gepflogenheiten. Sie verunglimpfen die bisherigen Standards der öffentlichen Debatte als übertriebene „political correctness”, argumentieren mit der gefühlten Wahrheit – und sind erfolgreich. Bis heute sind viele darüber fassungslos: Auch so kann man die vielen „Faktencheck”-Artikel erklären, die Falschaussagen widerlegen sollen – und doch nur diejenigen erreichen, die den Populisten ohnehin nicht glauben. Das ist das Prinzip Filterblase: zumindest online liest jeder viel eher das, was ihm ins Weltbild passt, weil Google und Facebook vorsortieren.

Eine gefühlte Wahrheit der Linksliberalen?

Natürlich muss man fragen, ob die Diskussion um eine postfaktische Öffentlichkeit und Filterblasen selbst nur eine gefühlte Wahrheit der bisher dominanten Linksliberalen ist. Jedenfalls könnte man so ja bequem erklären, warum der Siegeszug liberaler Ideen in den vergangenen Jahrzehnten, hierzulande selbst in der CDU, jetzt mindestens ins Stocken gerät.

Möglicherweise haben Parteien, Politiker und Medien missachtet, dass das Vertrauen in sie seit Jahren schwindet; dass die Politik und die politische Debatte das konservative Spektrum zu wenig abbilden; dass „politisch unkorrekte“ Medien und Blogger schon länger großen Zulauf haben. Doch bei aller Selbstreflexion: Demokratie kann nicht funktionieren, wenn eine öffentliche Debatte auf Grundlage gemeinsam akzeptierter Fakten nicht möglich ist. Wir haben also ein Problem und müssen uns fragen: Wie kommen wir wieder zu einer „faktischen” politischen Diskussion zurück?

Die zuletzt so erstarkten Populisten und ihre Anhänger werden sich auch künftig nicht mehr als bislang um einstmals allgemeingültige Wahrheiten scheren. Sie sind aber auch deshalb so erfolgreich, weil der mediale Boden für ihren Erfolg bereitet wird. Dabei profitieren sie sowohl von etablierten Medien, die all die Provokationen und Tabubrüche immer wieder empört thematisieren als auch von einem Netzwerk aus ihnen politisch nahestehenden Zeitungen, Websites und Bloggern, die ihre Botschaften wohlwollend replizieren. Dazu tritt jetzt ein ganz neues Phänomen: absichtlich falsche, allein auf hohe Weiterverbreitung im Netz optimierte Nachrichten – Fake News. Diese erfundenen Nachrichtentexte führen das, was man politische Netzöffentlichkeit nennt, ad absurdum.

Ein Fake-News-Anbieter offenbart sich

Eine Website für Fake News aufzusetzen, dauert wenige Stunden. Mittlerweile sind das ganze „Redaktionen“, die am laufenden Band Falschmeldungen mit marktschreierischen Überschriften produzieren. Mit Jestin Coler offenbarte sich jüngst ein Betreiber von zahlreichen Fake-News-Webseiten dem US-Hörfunknetzwerk NPR. Er beschäftigt nach eigener Auskunft etwa 20 Menschen damit, Meldungen zu verfassen wie jene über einen toten FBI-Agenten, der angeblich mit Hillary Clintons E-Mail-Affäre betraut war.

Diese Meldungen werden auf Facebook millionenfach geklickt und geteilt, können über Google gefunden werden, landen in Whatsapp-Gruppen und E-Mail-Verteilern. Die Betreiber wiederum verkaufen auf ihren Websites Anzeigenplätze. Jestin Coler hat die Erfahrung gemacht, dass Fake News fast ausschließlich im rechten politischen Spektrum funktionieren. In linken Kreisen werde der Fake „entlarvt und dann verläuft die Story im Sande”, so Coler.

Die zwei Ursachen für den Erfolg von Fake News

Um den Erfolg von Fake News zu verstehen, muss man zwei tief greifende Veränderungen der Medienbranche betrachten: die Kommerzialisierung sowie die Abkopplung der Form vom Inhalt. Die plakativen Überschriften der „Bild” konnte man in Zeiten sehr hoher Abonnentenzahlen vielleicht noch als harmloses Spiel verstehen. Doch der heutige totale Wettbewerb um Aufmerksamkeit im Netz hat daraus bitteren Ernst gemacht: Wer mit Nachrichten im Netz Erfolg haben will, braucht Klicks. Was aufregend ist und provoziert, wird öfter geklickt – und verspricht höhere Werbeeinnahmen. Deshalb schaffen es hierzulande die provokanten Sprüche von AfD-Politikern so oft in die Überschriften: darüber regt man sich auf, das klickt sich gut. Neu ist das freilich nicht: Politiker aller Parteien, Lobbyisten und viele, die mit ihrer Botschaft durchdringen wollen, haben dieses Spiel in den Jahren davor schon gespielt.

Fake-News-Websites sollen nicht die politische Debatte, sondern die Umsätze ihrer Betreiber verbessern. Daher drehen diese die Spirale jetzt weiter, erfinden mangels tatsächlicher Sensationsmeldungen einfach ihre eigenen – und präsentieren sie ganz klassisch als nachrichtliche Meldung. Gegenüber herkömmlichen Nachrichtentexten setzen Fake News auf Google oder Facebook die größeren Klickanreize. In den entsprechenden Filterblasen landen sie ohnehin. Und es kann gut sein, dass die erfundenen Meldungen aufgrund des Nachrichtenformats für unbedarfte Leser sogar sehr glaubwürdig erscheinen.

Diese Trennung von Form und Inhalt, und das ist die zweite wichtige Veränderung auf dem Weg zu Fake News, hat in den Massenmedien mit den Scripted-Reality-Formaten des Privatfernsehens angefangen. Solche Beiträge tun so, als würden sie einen Alltag dokumentieren – zeigen aber Schauspieler, die nach Drehbuch handeln, um der Handlung mehr Würze zu verleihen. Von den im Netz beliebten, offenkundig von einigen Lesern nicht als Scherz verstandenen und ebenfalls in Nachrichtenform aufbereiteten Meldungen der Satirewebsite „Der Postillon” war es dann nur noch ein Katzensprung bis zu Fake News.

Abschied von der politischen Debatte

Dieser kleine Schritt für die Online-Medienwelt ist ein ziemlich großer für die Demokratie, und zwar in die falsche Richtung. Das Übergreifen der kommerziellen Unterhaltungslogik auf den (politischen) Nachrichtenbereich gibt nicht nur Wahlkämpfern ein mächtiges Werkzeug an die Hand. Es macht eine vernünftige politische Debatte mit denen, die Fake News konsumieren und zumindest teilweise für bare Münze nehmen, völlig unmöglich. Außerdem besteht die ganz reale Gefahr, dass sich Leser der Blogs von Autoren des Kopp-Verlags, von „PI-News” oder der deutschen Ausgabe von „Russia Today”, wo sich offene Lügen, einseitige Darstellungen und doppeldeutige Meinungsbeiträge vermischen, von der „faktischen” politischen Debatte für immer verabschieden.

Noch ist kaum erforscht, wer die Leser von Fake News sind und wie sie diese falschen Nachrichten konsumieren. Google und Facebook, bei denen dieses Phänomen besonders präsent ist, rücken keine Zahlen heraus. Der Stanford-Professor Sam Wineburg deutete unlängst in einem Interview mit der „Zeit” an, dass nicht etwa nur Jugendliche auf falsche oder tendenziöse Inhalte im Netz hereinfallen, sondern auch Akademiker. Ebenfalls bemerkenswert: Im Internet ist es Lesern oft egal, auf welcher Website ein Text veröffentlicht wurde oder wer der Autor ist – wichtiger ist, dass die Headline stimmt. Hinterher heißt es: „Das habe ich auf Facebook gelesen.“ Dabei ist es für das Verständnis eines Beitrags zentral wichtig, ob er auf der Website eines traditionellen Nachrichtenmediums oder auf einem rechtslastigen Blog veröffentlicht wurde. Der Fake-News-Anbieter Justin Coler findet: „Wir haben eine ganze Nation medialer Analphabeten.“

Was man gegen Fake News tun kann

In diesem Befund steckt zugleich eine mögliche Kur: Medienbildung, etwa in Form des gern zitierten und leider nie näher definierten „Internet-Führerscheins”. Man müsste übrigens nicht nur Schülern erklären, wie Inhalte im Netz zu konsumieren sind. Allerdings wirkt diese Therapie nur langfristig; wichtiger sind Maßnahmen, die sofort wirken.

Man muss sich Fake News als Markt vorstellen, mit Angebot und Nachfrage. Würde das Publikum protestieren, wenn das Angebot von jetzt auf gleich verschwinden würde? Wahrscheinlich nicht, weil Fake News in der Regel zu den Menschen kommen und nicht umgekehrt. Neue professionelle Anbieter wird es hingegen so lange geben, wie sich mit Fake News Geld verdienen oder erfolgreich Propaganda machen lässt.

Erste Initiativen der Politik setzen daher richtigerweise beim Angebot an – das von der SPD angeregte parteiübergreifende Bündnis gegen Fake News, Strafanzeigen wie die von Renate Künast, zunehmender Druck auf Facebook, Google und andere. Diese Internetkonzerne müssen sich ihrer Meinungsmacht stellen. Zumindest die von ihnen erstellten und an die Nutzer individuell ausgespielten Newsfeeds, die keinen Unterschied zwischen Katzenfotos und demokratiezersetzenden Inhalten machen, müssen als eigenständige Medienangebote verstanden und reguliert werden. Zögerlich beginnen Google und Facebook immerhin, Fake-News-Websites aus ihren Anzeigennetzwerken zu werfen, um ihnen die Finanzierung zu erschweren.

Was Habermas sagt

Allein: auch das wird auf Dauer nicht reichen. Justin Coler, der professionelle Macher von falschen Nachrichten, sagt, es gebe jenseits der Platzhirsche genügend Dienstleister, die über seine Websites Anzeigen verkaufen wollen. Facebook sucht, anstatt politisch inakzeptable Inhalte konsequent anzugehen, aktuell per Stellenausschreibung einen Medienprofi, der die Öffentlichkeit beruhigen soll. Und die Vermutung liegt nahe, dass die Populisten, denen eine postfaktische politische Öffentlichkeit nützt, sich keinem Bündnis mit den „Altparteien” anschließen werden, sondern die Öffentlichkeit und die politische Debatte weiter zu spalten versuchen.

Der Philosoph Jürgen Habermas empfiehlt, auf diese von den Populisten etablierte Lesart schlichtweg nicht einzugehen. Worauf Politiker und Journalisten, Pädagogen und Forscher hingegen sehr wohl eingehen müssen, sind die Menschen, die derzeit lieber komplett erfundene Nachrichten lesen, als sich über echte auszutauschen – ehe aus der postfaktischen eine postdemokratische Realität wird.