China ist der große Gewinner der diesjährigen Berlinale: gleich drei Preise gingen ins Reich der Mitte, darunter der Goldene Bär für den Krimi „Schwarze Kohle, dünnes Eis“

Berlin - Die Jury macht, was sie will, und es ist auf gar keinen Fall das, was man erwartet. Das ist wohl das wichtigste Berlinale-Gebot. Folglich war es Samstagabend nicht zu erwarten, dass Richard Linklater und seine Stars den Goldenen Bären der Filmfestspiele für „Boyhood“ in die Arme würden nehmen können. Dazu war Linklaters faszinierendes Langzeitprojekt über das Heranwachsen eines Jungen aus Texas, an dem er zwölf Jahre gearbeitet hatte, viel zu sehr umjubelt worden – von Zuschauern und Kritikern gleichermaßen.

 

Das Gremium mit seinem Präsidenten James Schamus an der Spitze gab den Goldenen Bären dafür an den brutalen, zynischen chinesischen Krimi „Ba Ri Yan Huo“ („Schwarze Kohle, dünnes Eis“) von Yinan Diao. China räumte gleich weiter ab: Der Darstellerpreis ging an Fan Liao, der in dem Krimi einen persönlich gescheiterten, introvertierten Detektiv gibt. Und die Trophäe für die beste künstlerische Leistung bekam der Kameramann Zeng Jian für seine Bilder in dem Drama „Tui Na“ um blinde und sehbehinderte Angestellte eines Massagekollektivs. Als beste Darstellerin wurde die 23-jährige Japanerin Haru Kuroki für ihre Rolle des dezenten Hausmädchens in einem Tokioter Haushalt kurz vor dem Weltkrieg in „Chiisai Ouchi“ („Das kleine Haus“) von Yoji Yamada ausgezeichnet.

Ein bisschen wirkt es da schon wie ein Trostpreis in Richtung Amerika, dass Wes Andersons grandiose Komödie „Grand Hotel Budapest“, der nichts anderes tut, als Spaß zu machen, den wichtigen „Großen Preis der Jury“ bekam. Kino darf also auch einfach bedeuten, dass man zwei unbrisante, wunderbare Stunden mit einer Menge Stars verbringt. Richard Linklater schließlich erhielt den Silbernen Bären für die beste Regie, immerhin. Und auch der deutsche Film, der zum ersten Mal seit Jahren mit vier Wettbewerbsbeiträgen vertreten war, ging nicht leer aus: Für das beste Drehbuch wurden die Geschwister Anna und Dietrich Brüggemann mit ihrem stilistisch strengen Drama „Kreuzweg“ über den religiösen Wahn einer 14-Jährigen ausgezeichnet.

Der Film ist modern, brutal und zynisch

Berlinale-Jurys neigen zur Entscheidung fürs Abseitige – und manchmal auch zur Trophäisierung einer politischen Botschaft. Beides kann man sogar verstehen, theoretisch, denn schließlich werden die Menschen ohnehin ins Kino strömen, um Linklaters berührendes Drama zu sehen – ganz ohne das Berliner Preiskatapult. Was also ist die Botschaft der diesjährigen Entscheidungen? Offensichtlich will die Jury den Blick auf ein asiatisches Kino lenken, das sich nicht um politische Botschaften schert, sondern der erzählerischen Lust hingibt – dem Individuellen, der Story. Tabus scheint es dabei kaum zu geben.

„Eine besondere politische Bedeutung hat der Film nicht“, sagte jedenfalls der Macher des chinesischen Krimis „Schwarze Kohle, dünnes Eis“ in Berlin. Yinan Diao hat eine moderne, brutale asiatische Version eines Film noir gedreht. Im Mittelpunkt der Geschichte stehen ein gescheiterter, ziemlich häufig betrunkener Ex-Kommissar und seine Hauptverdächtige, eine völlig undurchsichtige junge Frau, die ins Blickfeld gerät, weil alle Mordopfer irgendwann einmal mit ihr in Kontakt standen. Die Dialoge sind knapp, die Emotionen bestens verbrämt, wahre Liebe steht nicht zu befürchten. Einen großen Reiz des Films machen für europäische Augen die Momente aus, in denen der moderne chinesische Alltag ins Bild drängt. Beschrieben wird da eine Hier-geht-alles-Welt, aber es ist eine Freiheit in düsteren Farben.

Die deutschen Filme wurden auch international gelobt

Eine besondere Alltagsbeschreibung leistet auch Jian Zengs mit dem Silbernen Bären ausgezeichnete Kamera in dem Drama „Tui Na“ („Blinde Massage“) aus der abgeschotteten Welt einer blinden Angestellten in einem Massagesalon. Zitternd, schwankend, suchend tastet sich die Kamera ihren Weg, der ohne die Perspektive der Protagonisten auskommen muss – und je mehr es gelingt, sich aus der Sicht der Normalität zu befreien, desto sicherer wird der Blick in diesen so fremden, paternalistisch vom Chef regierten Alltag des Massagekollektivs, und die Sicht nach draußen, in die restliche Welt, wandelt sich in eine Aussicht auf feindliches Terrain.

Einzig das Drama „Kreuzweg“ wurde von den vier deutschen Wettbewerbsbeiträgen ausgezeichnet – wobei sowohl Feo Aladags Afghanistan-Drama „Zwischen Welten“ als auch Dominik Grafs „geliebte Schwestern“ international von den Kritikern gelobt worden waren. Die Geschwister Dietrich und Anna Brüggemann erzählen in ihrem formal streng gegliederten Film die Geschichte einer tödlichen Unterdrückung: Die 14-jährige Maria wächst in einem fundamentalistisch katholischen Elternhaus und der dazugehörigen Gemeinde auf und zerbricht an den Ansprüchen und Schuldgefühlen, die sie an sich ableitet. Kreuzweg ist eine Passionsgeschichte, in vierzehn Stationen der Via Dolorosa gegliedert. „Als es die vielen Berichte über sexuellen Missbrauch an Schulen und Internaten gab, haben wir uns überlegt, dass eine streng religiöse Erziehung auch seelischer Missbrauch ist“, sagt Anna Brüggemann.

Dieses Drama mit seiner Hauptdarstellerin macht die Entscheidung der Jury für die beste Schauspielerin schwer nachvollziehbar. Der Wettbewerb war voller starker Frauenrollen. Man hätte allerdings im Vergleich besonders der erst vierzehn Jahre alten Lea van Acken eine Auszeichnung gegönnt. Sie hat, so scheint es, das Leiden ihrer Maria inhaliert, sie spielt Selbstkasteiung, Kampf und Schwinden so, dass einem um sie angst und bange wird.