Die Bürgerstiftung Stuttgart verleiht sechs Projekten den Bürgerpreis: Prämiert werden Initiativen, die sich für Randgruppen einsetzen, sich um einsame alte Menschen kümmern und die Geschichte lebendig halten. Wir stellen die Gewinner vor.

Lokales: Sybille Neth (sne)

Stuttgart - Stuttgart ist die Hauptstadt des Ehrenamtes. Ein Drittel der Einwohner engagieren sich in Vereinen oder Gruppierungen und die Bürgerstiftung hat am 29. Januar zum neunten Mal herausragende Projekte mit dem Bürgerpreis ausgezeichnet. „Uneigennütziges Engagement ist der Kitt, der eine Gesellschaft zusammenhält“, würdigte Uwe-Karsten Städter vom Vorstand der Porsche AG die Bedeutung des Ehrenamtes. Bereits zum dritten Mal feierte die Bürgerstiftung im Porsche-Museum die Preisverleihung mit 450 geladenen Gästen und mit Oberbürgermeister Fritz Kuhn, der die Schirmherrschaft übernommen hatte. Und auch für die Unterhaltung war gesorgt mit Cool-Jazz der Stuttgarter Band um den Sänger Noah Kwaku und mit Moderator Martin Hoffmann. Vergeben wurden insgesamt 33 000 Euro Preisgelder, gestiftet von verschiedenen Unternehmen. Verliehen wurden die Preise an sechs Initiativen, die von der Jury ausgewählt wurden. Jedes Projekt erhält 5000 Euro. Den Publikumspreis konnten die Stuttgarter per Online-Abstimmung verleihen. Der Gewinner erhält 3000 Euro.

 

Das Chörle

Das Chörle tritt nie öffentlich auf. Im Porsche-Museum machte es eine Ausnahme und brachte die Gäste sogar selbst zum Singen. Rund 60 Mitglieder hat das Chörle, das die Kirchenmusikerin Sabine Ostmann gegründet hat und das Verstorbenen, die ohne Angehörige und Freunde beigesetzt werden, einen würdevollen Abschied bereitet. „Wir singen, legen Blumen auf den Sarg, schmücken ihn mit Tüchern und bringen Kerzen mit“, beschreibt die Gründerin das kleine Zeremoniell. Jährlich sterben in Stuttgart 400 bis 500 Menschen, bei denen niemand am Grab steht. Meist wissen die Sänger und Sängerinnen des Chörle nicht mehr als den Geburts- und den Todestag des Toten.

#ichbinkeinFreier

Die Initiative #ichbinkeinFreier sagt dem käuflichen Sex den Kampf an. „Wir wollen nicht die Frauen aus der Prostitution holen, denn für jede, die geht, kommt eine andere nach“, erklärt die Künstlerin Justyna Koeke den Ansatz des Projekts. Zusammen mit Helena Dadakou und Tara da Lanca geht sie mit Kamera und Mikrofon auf die Straße und fordert Männer dazu auf, sich öffentlich zur Ablehnung von Prostitution zu bekennen.

Moderator Martin Hoffmann berichtete, dass er ursprünglich aus den Online-Bewertungen, die Männer über ihre Besuche im Bordell abgeben hatte, zitieren wollte. Ihm sei jedoch eine solche „unglaubliche Menschenverachtung“ dabei begegnet, dass er derartige Kommentare nicht weitergeben wolle. Die Videos mit den Statements der Männer posten die drei Frauen auf Facebook und auf Instagram. Bisher sind es schon 800 Stück. Und auch bei der Preisverleihung wurden sie aktiv.

Die vierte Lebensphase

„Das Alter ist der längste Abschnitt im Leben“, sagt Martin Schneider, der zusammen mit anderen Aktiven aus dem Projekt „Die vierte Lebensphase“ einmal in der Woche Hausbesuche bei Senioren macht, die sonst niemand haben, der zu ihnen kommt. Da wird gemeinsam Kaffee getrunken, „Mensch ärgere Dich nicht“ gespielt, eingekauft – je nach den Möglichkeiten des alten Menschen. „Für viele ist das der Lichtblick in der Woche“, weiß Eileen Bihn. Die junge Frau hat lange Zeit eine vereinsamte Seniorin betreut, und Ingrid Breitmaier freut sich, dass richtige Freundschaften entstehen. „Ich muss die Beziehung zu dem dementen Herrn, den ich besuche, jede Woche neu aufbauen, weil er alles vergisst“, erzählt Catica Bocarac, die selbst schon im Ruhestand ist.

Manege der Kulturen

Artistik klappt nur, wenn alle zusammenhalten und zusammenarbeiten. Diesen Gedanken macht sich das Zirkusprojekt „Manege der Kulturen“ von der Kulturinitiative Kukuk zunutze. Als 2015 sehr viele Flüchtlinge nach Stuttgart kamen, begannen die Nachwuchstrainer von Kukuk mit Flüchtlingskindern zu jonglieren, Menschenpyramiden zu bauen und jede Menge andere Kunststücke zu üben – und dies im eigenen Umfeld der Kinder.

„Die Kinder sollen so einen geschützten Raum bekommen, einen Raum, um sich zu entwickeln“, erklärt der Trainer Timon Schilling den Grundgedanken. Größter Wunsch der Aktiven ist es, eine eigene Halle zum Proben zu erhalten.

Stolpersteine für Stuttgart

Zweimal im Jahr lässt die Initiative Stolpersteine für Stuttgart Kleindenkmale in der Stadt verlegen und erinnert so an die zwischen 1933 und 1945 durch die Nationalsozialisten deportierten und ermordeten Menschen. Gerhard Götze, Gudrun Greth und Gerhard Hiller versuchen, das Leben der Opfer durch ihre Recherchen in Archiven nachzuzeichnen und ihnen so ihre Würde wieder zu geben.

Zur Verlegung der Steine lädt die Initiative stets Schüler ein. „Das größte Interesse an uns haben die jungen Leute“, berichtet Gerhard Hiller – und auch davon, dass er jeden Monat von einem Jungen eine Spende über fünf Euro erhält, „für eine gute Sache“.

Die Queerdenker

Sechs junge Menschen stehen hinter der Gruppe „Queerdenker“. Der englische Begriff queer bedeutet ursprünglich so viel wie komisch oder anders – und so definieren sich die Queerdenker-Stuttgart auch selbst. Sie haben für alle Jugendlichen und jungen Leute, die sich nicht als heterosexuell oder schwul fühlen und sich auch nicht eindeutig als Frau oder Mann sehen im Untertürkheimer Café Ratz einen Treffpunkt geschaffen. Dort wird allen Jugendlichen, die nicht der Norm entsprechen Respekt entgegengebracht. „Wir wollen so ein Angebot für alle Queeren machen“, betont Ju Nouroozi von der Gruppe.

Den Publikumspreis haben die Lebensmittelretter von „Raupe Immersatt“ erhalten. Sie suchen seit Langem nach Räumen für ein Café, in dem sie vor der Tonne geretteten Lebensmittel anbieten können.

Daimler-Vorstandsmitglied Wilfried Porth wurde für sein Engagement insbesondere für die berufliche Integration junger Flüchtlinge mit der Stiftungsmedaille der Bürgerstiftung ausgezeichnet.