Jeden Tag läuft die Schülerin Eda Mildan an mehreren Stolpersteinen vorbei. Jetzt hat sie sich mit den Schicksalen befasst, die sich hinter den Gedenksteinen verbergen – und bekommt dafür nun eine Auszeichnung.

Lokales: Sybille Neth (sne)

Stuttgart - Der Schulweg von Eda Mildans Elternhaus zum Zeppelin-Gymnasium dauert nur zehn Minuten. Aber auf diesem kurzen Stück liegen allein acht Stolpersteine. Im vergangenen Schuljahr hat sich die Abiturientin im Rahmen eines Seminarkurses mit dem Schicksal von Menschen in ihrem Viertel auseinandergesetzt, an die die Stolpersteine erinnern. Am Donnerstag erhält sie dafür den Jenny-Heymann-Preis.

 

„Viele in meiner Schule, vor allem die Jüngeren, wussten nicht, was die Steine bedeuten“, erzählt Eda Mildan und berichtet stolz, dass sie mit ihrer Arbeit ein Stück weit zu einer Erinnerungskultur beigetragen habe. „Meine Schulkameraden haben sich durch meinen Vortrag damit auseinandergesetzt und mich berührt es besonders, dass hinter jedem Stein ein individuelles Schicksal steckt“, sagt sie. „Ich wollte kein rein historisches Thema bearbeiten, sondern lieber eines, das einen Bezug zur Gegenwart hat.“ Während ihrer Recherchen ist sie auf die Biografien der ermordeten Menschen gestoßen. Zum Beispiel auf die von Lazarus Karschinierow, der in der Neckarstraße 150 und somit fast gegenüber dem Zeppelin-Gymnasium sein Tabakgeschäft hatte. In der Reichspogromnacht wurde es von den Nazis zerstört. Karschinierow und seine Tochter Jeanette mussten in ein sogenanntes Judenhaus an der Kernerstraße umziehen, und am 22. August 1942 wurden sie ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Der Vater starb dort am 4. Mai 1945, kurz vor der Befreiung. Die Tochter überlebte.

Kleinkind wird Opfer des KZ-Arztes Josef Mengele

An Eugen Buck erinnert ein Stolperstein in der Libanonstraße. Er starb 1942 in der Gaskammer. 1941 war er von der Gestapo unter den Augen der Nachbarschaft aus der elterlichen Wohnung abgeholt worden, weil er illegal die Sendungen der BBC gehört hatte. Buck, der auch einer jüdischen Familie das Leben gerettet hatte, wurde nach Dachau deportiert. Alle Schicksale, mit denen sie konfrontiert wurde, haben die 18-jährige mitgenommen, am meisten aber das der kleinen Irene Winter. Das zweijährige Kind wurde mit seiner Mutter am 15. März 1943 zusammen mit 234 weiteren Sinti von Stuttgart ins Konzentrationslager Auschwitz abtransportiert. Dort wurde das Kleinkind Opfer der Menschenversuche des berüchtigten KZ-Arztes Josef Mengele und starb drei Monate später. An sie und ihre Mutter erinnert ein Stolperstein vor dem Haus Hackstraße 24.

„Ich konnte mir gar nicht vorstellen, dass dies alles passiert ist“, sagt Eda Mildan. Dies, obwohl sie wie alle Schüler am Zeppelin-Gymnasium in der neunten Klasse eine Fahrt ins ehemalige Konzentrationslager Dachau gemacht hatte. „In den Wochen, in denen ich die Seminararbeit geschrieben habe, habe ich viel nachgedacht“, erzählt sie. „Seither lese ich auf jedem neuen Stein, der mir begegnet, die Inschrift.“ Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit findet sie wichtig. Bei ihren Recherchen erfuhr sie, dass es auch Widerstand gegen die Stolpersteinaktion des Künstlers Gunter Demnig gab. „Ich kann das nicht verstehen“, sagt sie kopfschüttelnd. Sie selbst engagiert sich gegen jede Art von Diskriminierung.

Eda Mildan gibt Grundschülern Nachhilfe

Als Jugendliche mit türkischem Migrationshintergrund arbeitet sie ehrenamtlich im türkischen Elternbeirat (Steb) mit. Ihr Vater hat den Verein gegründet und Tochter Eda gibt dort Grundschülern Nachhilfeunterricht. Außerdem gehört sie zu den wenigen Schülerinnen, die in der kommenden Woche im Fach Physik das Abitur schreiben. Neben ihr werden am Donnerstag auch die Stuttgarter Schülerinnen Jule Kerker, Léa Glasmeyer, Evin Kilinc, Milena Müller, Tanja Gref sowie die Schülerinnen des Bad Mergentheimer Wirtschaftsgymnasiums Hanna Blumenstock, Vanessa Nagler und Melanie Ansmann mit dem Jenny-Heymann-Preis für ihre Auseinandersetzung mit Themen zur jüdischen Kultur und Geschichte ausgezeichnet.

Der Preis wird zum zweiten Mal vergeben und es ist ein Zufall, dass in diesem Jahr ausschließlich Mädchen zu den Gewinnern gehören, betont Alfred Hagemann von der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit (GCJZ). Die Auszeichnung ist nach der Stuttgarter Lehrerin Jenny Heymann (1890 bis 1996) benannt. Sie gehörte 1948 zum Gründungskreis der GCJZ.