Deutschlands Grüne, da sind sich die Kommentatoren weit gehend einig, haben auf ihrem Bundesparteitag alles daran gesetzt, etwaige Ängste vor einer Regierungsübernahme der Ökopartei zu zerstreuen. Alle Anträge von der Basis mit Maximalforderungen wurden abgebügelt.

Stuttgart - Die Grünen haben am Wochenende Annalena Baerbock offiziell zu ihrer Kanzlerkandidatin gekürt und ihr Programm zur Bundestagswahl verabschiedet. Hier eine Auswahl an Kommentaren aus der deutschen Medienlandschaft.

 

Die Partei hat Verbündete

Der Berliner „Tagesspiegel“schreibt zu der Konferenz, auf der auch Ex-Siemens-Chef Kaeser gesprochen hat: „Vor einigen Jahren noch wäre Kaeser auf einem Grünen-Parteitag vermutlich ausgebuht worden, diesmal gab es anhaltenden Applaus. Auch das zeigt: Die Welt und die Grünen haben sich verändert: Die Klimakrise ist präsenter, die soziale Spaltung sichtbar, eine Transformation der Wirtschaft gilt als überfällig. Selbst, wenn die Werte in Umfragen zuletzt schlechter waren, steht sie stabil bei 20 Prozent. Auch die Verbündeten der Grünen sind mehr geworden: Gewerkschaftsvertreter, Wissenschaftler, Ökonomen, Investoren zeigen Sympathien. Wie die Grünen sich verändert haben, hat nicht zuletzt der Parteitag eindrucksvoll belegt. 3280 Änderungsanträge für das Wahlprogramm hatte es vorab gegeben. Der Parteitag hätte im Chaos versinken können, doch die Basis verzichtete auf die ganzen radikalen Forderungen. Kein Tempo 70 auf Landstraßen, kein Spitzensteuersatz von 53 Prozent, keine Enteignung von Immobilienkonzernen.“

Realos setzen sich durch

„Die Revolution ist vorerst abgeblasen“, findet der „Reutlinger Generalanzeiger“: „Von den über 3000 Änderungsanträgen für das Wahlprogramm fanden beim Parteitag nur wenige eine Mehrheit. Die von der Parteispitze befürchtete Linksverschiebung blieb aus. Der Realo-Flügel hat sich durchgesetzt und verhindert, dass die Grünen zu radikal werden. Sie wollen kein Bürgerschreck sein, sondern sich als Partei präsentieren, die auch für die politische Mitte wählbar ist. Eine andere Strategie ist auch nicht denkbar, wenn man ins Kanzleramt einziehen will.“

Es geht um Ängste

Die „Frankfurter Rundschau“ fragt sich, ob die Grünen... „... statt eines Wahlprogramms versehentlich einen Koalitionsvertrag mit der CDU oder der SPD beschlossen haben. Beispiel Klima: Da wurde die Forderung, beim CO2-Preis die im Entwurf des Wahlprogramms vorgesehenen 60 Euro auf 80 Euro zu erhöhen, abgelehnt. Das liegt eher nicht daran, dass die Grünen-Spitze und die Mehrheit der Delegierten plötzlich die Dramatik des Klimawandels unterschätzen und die 60 Euro deshalb einfach für ausreichend halten würden. Das Problem ist ein anderes: Sie argumentierten erst gar nicht anhand der Frage, wie radikal gehandelt werden muss, um den Klimawandel zu bekämpfen. Es ging praktisch nur noch darum, den von der politischen Konkurrenz ausgeschlachteten Ängsten vor einer Verteuerung des alltäglichen Lebens kein Futter zu geben.“

Kommt Schwarz-Grün?

„Eine schwarz-grüne Bundesregierung ist wahrscheinlicher geworden“, resümiert die „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“: „Ein Selbstläufer wären entsprechende Verhandlungen deshalb noch lange nicht. Zwölf Euro Mindestlohn und 50 Euro mehr Hartz IV im Monat dürften vor allem im Wirtschaftsflügel von CDU/CSU auf Widerstand stoßen. Klar ist aber auch: Nach einer Wahl kann gewöhnlich keine Partei ihre Maximalforderungen durchsetzen. Ein denkbares Szenario ist, dass die Grünen für den Verzicht auf eine Vermögensteuer auf einen höheren Steuersatz für Spitzenverdiener pochen werden. Wenn im Rahmen einer umfassenden Steuerreform zugleich die Mittelschicht entlastet würde, könnte die Union dazu schwer Nein sagen.“

Die Wünsche bleiben

Das Düsseldorfer „Handelsblatt“ meint: „Es wäre ein Fehler zu glauben, die Grünen seien für immer Realos. Die Änderungsanträge wurden abgeräumt, die radikalen Wünsche trägt die Partei weiterhin in sich. Und das Versprechen von tief greifenden Veränderungen ohne Leidtragende ist so alt wie das Versprechen von Veränderungen selbst. Bislang wurde es immer gebrochen.“

Bumerang für die Kritiker

Die „Rhein-Zeitung“ geht noch einmal auf die Kritik an Kanzlerkandidatin Baerbock ein: „Längst ist auch an Reaktionen von Bürgern zu spüren, dass sich der Fall Baerbock drehen könnte: Nicht wenige verstört die Härte und Unbarmherzigkeit, mit der Baerbocks Fehler aufgespießt werden, während Minister wie Andreas Scheuer (CSU, Stichwort: Mautdebakel), Jens Spahn (CDU, Stichwort: Masken und Co.) oder Vizekanzler Olaf Scholz (SPD, Stichwort: Wirecard-Skandal) wegen Versäumnissen mit milliardenschweren Folgen weitgehend ungeschoren davonkommen. Und es mehren sich die Stimmen, dass ausgerechnet die einzige Frau unter den Kanzlerkandidaten so schonungslos angegriffen wird. Daher könnten diese Attacken gerade unter jungen Wählerinnen zum Bumerang für Baerbocks Gegner werden.“