Sollte man alte Bücher und Handschriften restaurieren oder digitalisieren? Am liebsten beides, sagen Historiker und Bibliothekare. Denn auch wenn das Internet die Dokumente besser durchsuchbar macht, vergisst es einfach zu viel.

Düsseldorf - Die Historikerin Gudrun Gersmann erforscht die Geschichte des rheinischen Adels: Die einen flohen, als Frankreich Ende des 18. Jahrhunderts das linke Rheinufer besetzte, andere arrangierten sich mit den neuen Machthabern. Um in den Familienarchiven nach den Motiven zu recherchieren, habe sie Schlösser und Burgen besucht und dort im stillen Kämmerlein Aktenbündel aufgeschnürt, Briefe entziffert und den Staub der Geschichte nicht nur gesehen, sondern auch eingeatmet, erzählt Gudrun Gersmann. „Das Highlight des Tages war dann der gemeinsame Verzehr eines Leberwurstbrötchens mit dem Archivar.“ Mit diesem Bericht will die Historikerin versichern, dass sich der Umgang mit Originalquellen weiterhin lohne. Denn ihrem Vortrag hat sie provozierend die Frage „Nie mehr ins Archiv?“ vorangestellt. Nie mehr ins Archiv, weil künftig alle Dokumente digitalisiert im Netz einzusehen sein werden?

 

Das möchte Gersmann dann doch nicht sagen, obwohl sie selber gerade ein digitales Archiv aufbaut. Mit der Bibliothek der Universität Köln, wo sie Professorin ist, will sie in den nächsten Wochen einige tausend Briefe des Diplomaten Friedrich von Gentz (1764 bis 1832) verfügbar und online durchsuchbar machen. Von Gentz war Monarchist und Berater Metternichs, er war auch einflussreicher Publizist und nicht zuletzt Spieler und Frauenheld. Dass so viele seiner Briefe zumindest als Kopie an der Universität Köln liegen, ist dem aus Stuttgart stammenden SPD-Politiker Günter Herterich zu verdanken, der sie aus Archiven in aller Welt zusammengetragen und viele davon gleich transkribiert hat. Den Traum einer Gesamtausgabe konnte Günter Herterich zu Lebzeiten aber nicht verwirklichen.

Von wegen das Internet vergisst nichts

Das digitale Publizieren erlaube es hingegen, den Datenbestand nach und nach zu ergänzen, sagt Gersmann. Auf einer Konferenz zur „Zukunft der Wissensspeicher“, zu der die Universität Konstanz und die Gerda-Henkel-Stiftung nach Düsseldorf eingeladen haben, zählt sie die Vorzüge digitaler Archive auf. Dazu gehört, dass bald Fachkollegen aus aller Welt leichter auf die Briefe zugreifen und sie kommentieren können. Allerdings kenne man die Fachkollegen nicht mehr so gut wie zu Zeiten, als sie noch persönlich vorbeischauen mussten, um die Briefe zu lesen, sagt Gersmann.

Wie so oft, wenn über den digitalen Wandel diskutiert wird, liegen Hype und Dystopie nah beieinander. Auch das Publikum der Konferenz in Düsseldorf, darunter viele Bibliothekare und Archivare, ist gespalten. Der Historiker Valentin Groebner von der Universität Luzern facht die Debatte an, als er die „feuchten Träume von einem WLAN-Paradies“ kritisiert. Auf einer Leinwand kann das Publikum die Kurznachrichten lesen, die während des Vortrags über Twitter verbreitet werden. „Was folgt aus dieser rabenschwarzen Sicht von Groebner im Hinblick auf digitale Publikationen? Drucken?“, heißt es da, oder ebenso sarkastisch: „Vielleicht sollten wir unsere Schriftzeichen wieder in Stein meißeln? Das scheint mir im Moment die sicherste Methode.

Valentin Groebner nimmt vor allem die These ins Visier, dass das Netz nichts vergesse. Mancher, über den online Schlechtes zu lesen ist, klagt darüber, dass die Berichte auch nach Jahren noch an der Spitze der Google-Trefferliste zu finden sind. Doch Groebner hält mit Beispielen von toten Links und eingefrorenen Projekten dagegen. Dazu zählt das Projekt Gutenberg-e der Columbia University in New York, das Ende der neunziger Jahre gegründet wurde, um historische Bücher elektronisch zu publizieren. Da sich nicht genug Käufer fanden, wurden die Bücher vor sieben Jahren kostenlos freigeschaltet. Seitdem hat sich auf der Website nichts mehr getan.

In der Diskussion berichten andere Geisteswissenschaftler davon, dass sie beim Überarbeiten ihrer Vorlesungen und Bücher einen großen Teil der Onlineverweise löschen müssen, weil sie inzwischen ins Leere führen. Für Valentin Groebner ist das elektronische Publizieren riskant: Wer wisse schon, ob die öffentliche Hand auch in dreißig oder fünfzig Jahren dazu bereit sei, die Repositorien zu bezahlen, auf denen die Ergebnisse der Forschung gespeichert werden?

Wenn analoge und digitale Welt verschmelzen

An diesem Punkt setzt Jürgen Renn vom Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte ein: Er fordert seine Kollegen auf, ihre Stimme zu erheben, damit das World Wide Web, das schließlich in einer Forschungseinrichtung – dem Cern in Genf – erfunden wurde, seinen Nutzen für die Wissenschaft nicht verliert. Die Infrastruktur dürfe nicht allein in den Händen großer Firmen bleiben. „Es lässt sich nicht alles vom Markt steuern“, sagt Renn, „vor allem die Wissenskultur nicht.“

Und so bleibt vorerst das Drucken eine gar nicht so abwegige Alternative. Man brauche beides, Digitales und Analoges, ist auf der Konferenz immer wieder zu hören. Doch was das heißt, wenn es zum Schwur kommt, bleibt offen. Was zum Beispiel sollte man tun, wenn das Geld nur reicht, um entweder die Originale zu restaurieren oder sie zu digitalisieren?

Da lässt ein Projekt aufhorchen, das die analoge und digitale Welt verschmelzen will. Der Informatiker Harald Reiterer präsentiert das virtuelle Bücherregal, das es an seiner Hochschule, der Universität Konstanz, schon gibt, und das bald auch vermarktet werden soll. Statt zwischen den einzelnen Bücherregalen zu flanieren und sich einen Überblick über das thematisch und alphabetisch sortierte Angebot zu verschaffen, kann man das an einem großen Bildschirm tun.

Dort sind alle Bücher mit ihrem eingescannten Einband zu sehen. Wer sich nicht mehr an Autor und Titel erinnert, aber noch weiß, dass das Buch dick und blau war, hat nun auch eine Chance auf Erfolg. Mit Wischbewegungen schiebt man das Buchregal weiter, und statt das Buch aus dem Regal herauszuziehen, tippt man es an und erhält alle Angaben aus dem Katalog – inklusive eines Codes, den man mit dem Smartphone abfotografieren kann, um den Weg zum realen Standort in der Bibliothek angezeigt zu bekommen.

Schade nur, sagt die Historikerin Maren Lorenz von der Universität Bochum, dass Bibliotheken das virtuelle Bücherregal nun mit öffentlichen Mitteln kaufen müssen, obwohl es mit öffentlichen Mitteln entwickelt worden ist.