Wo liegt die ideale Höhe einer Bahnsteigkante? Da scheiden sich die Geister. Die DB AG strebt mit ihrem Bahnsteighöhenkonzept (!) ein Normmaß von 76 Zentimetern an. In Baden-Württemberg ist die Mehrzahl der Bahnsteige aber nur 55 Zentimeter hoch. Die Nivellierung wird Jahrzehnte in Anspruch nehmen.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)

Stuttgart - Der Bahnsteig wird als Kulturgut unterschätzt. Dabei sind ihm eine erstaunliche Zahl von Gedichten („Insel inmitten von Schienen“), Liedern (zum Beispiel von dem Panikrocker Udo Lindenberg) und Büchern gewidmet. Die Frage, wie er konstruiert sein sollte, ist eine Wissenschaft für sich. Darauf lenkt die Bundestagsdrucksache 19/24169 einen schiefen Blick.

 

Sie ist dem Bahnsteighöhenkonzept der Deutschen Bahn AG gewidmet. So etwas gibt es tatsächlich. Es stammt von 2017 und ist dem Umstand geschuldet, dass hinsichtlich der Bahnsteighöhen im Schienenverkehr eine gelinde Niveaulosigkeit herrscht. Das hat eine lange Vorgeschichte.

Was ist das Idealmaß: 55 oder 76 Zentimeter?

Die beginnt in Deutschland 1905. Damals hat die Deutsche Reichsbahn Normmaße für ihre Bahnsteige von wahlweise 76 oder 38 Zentimeter über Schienenoberkante festgelegt. Daran orientierte sich später auch die Eisenbahnbau- und -betriebsordnung der Bundesbahn. In der DDR galt aber eine „Regelhöhe“ von 55 Zentimetern. Für Bahnkunden, die sich mit dem Klettern schwertun oder gar einen Rollstuhl benötigen, wird das Umsteigen so ziemlich mühselig. Deshalb wollte die DB AG mit ihrem Bahnsteighöhenkonzept 76 Zentimeter als Zielgröße festschreiben.

In der Praxis erweist sich das als schwierig. Bundesweit gibt es 9234 Bahnsteige mit einer Gesamtlänge von 2300 Kilometern. 29,6 Prozent entsprechen dem offiziellen Ideal. In Baden-Württemberg sind es noch weniger. Hier liegt ein Drittel der landesweit 1277 Bahnsteigkanten auf einem Niveau von 55 Zentimetern. Die Nivellierung wird laut Bahn „mindestens 30 bis 40 Jahre“ dauern. Auf welcher Höhe sie stattfindet, wird sich zeigen.

Früher waren Bahnsteige übrigens eine exklusive Angelegenheit. Betreten durfte sie nur, wer über eine Bahnsteigkarte verfügte – was den Kommunisten Lenin zu dem Spott veranlasste, in Deutschland werde kein Bahnhof gestürmt, solange nicht jeder Umstürzler über eine Bahnsteigkarte verfüge. Die Bahnsteigkarten wurden nach 1960 abgeschafft, zuerst in der DDR, von 1965 an auch im Westen. Vorab wurde der ticketlose Zugang sechs Monate lang getestet, und zwar am Stuttgarter Hauptbahnhof. Der war schon damals ein Musterprojekt.