Peking plant ein gigantisches Infrastrukturprojekt: Die neue Seidenstraße macht aus Dörfern Metropolen. Ein Besuch ganz im Westen des Landes, an der Grenze zu Kasachstan.

Politik/ Baden-Württemberg: Christian Gottschalk (cgo)

Ürümqi - In Khorgos wachsen die Hochhäuser in den Himmel – ganz so wie überall in China. Die Träume, die wachsen in Khorgos jedoch noch ein gutes Stück weit höher hinaus. Noch vor fünf Jahren gab es hier, ganz im Westen des Riesenreiches, nicht viel mehr als eine staubige Grenzstation zu Kasachstan. Niemand hat sich die Mühe gemacht, die paar Hundert Menschen zu zählen, die verstreut in kleinen Hütten hausten. Inzwischen wohnen fast 100 000 Menschen in der Stadt, die auf dem Reißbrett entworfen wurde, Tendenz steigend. Und manch einer der Zugezogenen träumt davon, dass aus Khorgos einmal so etwas werden könnte wie aus Shenzhen. Die Stadt an der Grenze zu Hongkong, war vor wenigen Jahrzehnten ein Fischerdorf, nun leben elf Millionen Menschen dort – mit dem höchsten Pro-Kopf-Verdienst in ganz China.

 

Als Chinas Präsident Xi Jinping 2013 erstmals von seiner Idee der Neuen Seidenstraße berichtete, war das für Khorgos so etwas wie der Erweckungskuss. China will in Europa und Asien in Pipelines und Kraftwerke investieren, es geht um ein Netzwerk aus Straßen, Eisenbahnen, Häfen und Flughäfen – also um Infrastruktur. Dieses wahrscheinlich größte Infrastrukturprojekt der Menschheitsgeschichte erfährt in Khorgos so etwas wie einen geplanten Zwangsstopp.

Zwangsstopp an der Grenze zu Kasachstan

An der Grenze zu Kasachstan müssen die Container umgeladen werden, die mit der Eisenbahn transportiert werden. Die alte sowjetische Breitspur harmoniert nicht mit der chinesischen Spurbreite. Ansonsten harmonieren China und seine Nachbarn durchaus. Der Großhändler Yu Chengzhong berichtet, er habe schon 2015 rund 80 000 Tonnen an Gemüse und Früchten nach Zentralasien und Russland transportiert. Wie viel es heute ist, da die westliche Welt gegen Russland ein Embargo verhängt hat, will er nicht sagen. Nur so viel lässt er sich entlocken: Es sei deutlich mehr, Tendenz steigend.

Insgesamt 130 Cargo-Züge haben sich 2016 auf den Weg von China nach Europa gemacht. In diesem Jahr werden es 1300 Züge sein. Die vier bis sechsspurigen Straßen, die in Khorgos noch Raum bieten für sehr viel mehr Verkehr, lassen erahnen, dass China in ein paar Jahren mit einem noch sehr viel größeren Handelsvolumen rechnet. Die Neue Seidenstraße, die international unter der Bezeichnung „one belt – one road“ (ein Band – eine Straße), kurz: Obor, bekannt ist, soll es möglich machen. China plant mit 64 Ländern den Auf- und Ausbau interkontinentaler Handelsnetze. Die Initiative soll 62 Prozent der Weltbevölkerung erreichen.

Bereits 200 Milliarden Dollar investiert

Fünf Jahre nach der ersten Idee sind mehr als 2600 Projekte in der Initiative eingebunden, Schätzungen zufolge hat Peking bereits mehr als 200 Milliarden (!) US-Dollar investiert. Nach den wilden Anfangsjahren, in denen praktisch alles, was auch nur im Entferntesten mit bilateralem Handel gerechtfertigt werden konnte, unter der Überschrift Obor lief, scheint es nun zu einer Beruhigung zu kommen. Hu Xiaolian, die Direktorin der chinesischen Export-Import-Bank, warnte bereits im Juni vor Finanzierungsproblemen. Man dürfe Unternehmen und Länder nicht überfordern. Das Gesamtprojekt stehe zwar keinesfalls infrage, doch auch Eswar Prasad, der ehemalige Leiter der China-Abteilung beim IWF, sieht eine „sinkende Euphorie“ in Peking.

In Ürümqi ist davon nichts zu spüren. Ürümqi ist die westlichste Metropole Chinas und die Großstadt, die auf der ganzen Welt am weitesten vom Meer entfernt ist. Nach Kabul ist es von hier aus näher als nach Peking, der Fisch, der in den Restaurants auf die Teller kommt, stammt zum Großteil aus Pakistan. Die Uhren gehen in der Hauptstadt der autonomen Provinz Xinjang zwar nicht anders als in der Hauptstadt des Riesenreiches, müssten sie aber. Aus politischen Gründen hat China nur eine Zeitzone, tatsächlich müsste Xinjang zwei Stunden hinter Peking zurückliegen. Die Sonne geht erst spät auf in Chinas Westen, im Winter müssen die Kinder erst um zehn Uhr in die Schule. Abends ist es noch hell, wenn in Peking schon lange tiefe Dunkelheit herrscht.

Kilometerweit erstrecken sich Gleisanlagen

Auf dem Güterbahnhof von Ürümqi herrscht bei jeder Tages- und Nachtzeit geschäftiges Treiben. Die Gleisanlagen reichen kilometerlang bis zum Horizont. Mit Hebekränen werden die Container von Lastwagen auf die Schiene gehievt. An diesem Tag ist der Inhalt Tomatensoße mit dem Bestimmungsort Italien. Kein Land auf der Welt produziert mehr Tomaten als China, Xinjang ist eines der größten Anbaugebiete überhaupt.

Nan Jun steht im Schatten der riesigen Container und überwacht den Ladevorgang. Jeder Zug, der später in Khorgos umgeladen wird, passiert den Bahnhof von Ürümqi und die kritischen Augen des Vizepräsidenten der China Railway Logistic Company. Die Züge fahren südlich nach Zentralasien oder nach Gwandar, dem großen Hafen in Pakistan, der mit chinesischer Unterstützung aufgebaut wurde. „In 44 Stunden sind wir in Almata, in 74 Stunden in Taschkent und in 14 Tagen in Europa“, sagt Nan Jun voller Stolz. Noch werden die Züge zu unregelmäßigen Zeiten auf den Weg geschickt. Der Logistikexperte träumt von einem Fahrplan, ähnlich wie bei Personenzügen – und von Wachstum und Wohlstand. Das Projekt der Seidenstraße, sagt Nan Jun, sei so etwas wie der Hauptgewinn in einer Lotterie.

Chinas Nachbarn sehen das nicht immer so. Der Tiefseehafen im pakistanischen Gwandar hat Indien schon beunruhigt, bevor dort die chinesische Marine ihre Schiffe zum Auftanken vorbeigeschickt hat. Zudem gehen Chinas wirtschaftliche Investitionen mit wachsendem politischem Einfluss in einer Reihe von Ländern der Region einher. In Afghanistan und Pakistan ist man in Sorge, dass immer mehr chinesische Schulen gebaut werden, in Sri Lanka konnte die Regierung die Schulden für den Bau des Hafens in Hambantota nicht zurückzahlen – und musste ihn für 99 Jahre den Chinesen überschreiben. Spannungen in der Region sind auch für die deutsche Exportwirtschaft von Bedeutung. Vier der Top-Zehn-Handelspartner Europas befinden sich in Asien. Wer den Güterbahnhof von Ürümqi besucht, der fährt vorbei an den Vertretungen von Mercedes, Smart und Porsche.

Vor 20 Jahren gab es keinen Kilometer Autobahn

In Chinas Westen herrscht Aufbruchstimmung. Xinjang, das autonome Gebiet der Uiguren, umfasst ein Sechstel der chinesischen Staatsfläche, es ist so groß wie Frankreich, Spanien und Deutschland zusammen. Noch vor 20 Jahren gab es in der gesamten Region keinen Kilometer Autobahn. Heute ist das Schnellstraßennetz mehr als 4500 Kilometer lang. Bärbel Kofler, die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung in Berlin, verweist auf den Preis, den Teile der rund 22 Millionen Bewohner in der Region bezahlen mussten. Kofler berichtet von geschlossenen Moscheen, vom Verbot, Kindern bestimmte, islamische Vornamen zu geben und von einer gewaltigen Polizeipräsenz. Tatsächlich ist in den Städten alle ein bis zwei Kilometer eine Polizeistation zu sehen, bewaffnete Beamte sind an nahezu jeder Straßenecke positioniert. „Nur wenn wir die Stabilität bewahren, ermöglicht uns das eine positive Entwicklung“, verteidigt Guo Weimin die Überwachung. Er ist in Peking Vizeminister des Informationsbüros des Staatsrates.

Die positive Entwicklung, die Xinjang in den letzten Jahren genommen hat, kann kaum jemand mit solch einer Verve beschreiben wie Gao Jianlong. Mit leuchtenden Augen berichtet der Präsident der Sozialwissenschaftlichen Akademie von Xinjang, wie das Einkommen der Menschen in die Höhe schnellt, dass es inzwischen 6200 Eisenbahnkilometer gibt und bis in zwei Jahren niemand mehr unter der Armutsgrenze leben soll.

Und im nächsten Jahr soll zu den knapp 200 größeren Verkehrsflughäfen im Land auch noch ein weiterer hinzukommen: in Khorgos. Chinas Westen leuchtet.