Im Sommer 1942 wurde fast das gesamte Stuttgarter Stadtgebiet fotografiert. Die Bilder lagen seither im Stadtarchiv und wurden noch nie veröffentlicht - bis jetzt.

Digital Desk: Jan Georg Plavec (jgp)

Stuttgart - Das alte Stuttgart, von dem der damalige Oberbürgermeister Karl Strölin nach den Bombennächten im Sommer 1944 sagte, dass es untergegangen sei – es existiert noch. Zwar nur auf Bildern, aber diese 12 000 Fotos im Stadtarchiv Stuttgart zeigen doch fast das gesamte damalige Stadtgebiet. Sie sind die Grundlage für „Stuttgart 1942“, unser Gemeinschaftsprojekt mit dem Stadtarchiv. Warum sind es so viele und um was für einen Bestand handelt es sich?

 

Im Sommer 1942 schickte das Stadtplanungsamt 26 städtische Beamte los, um quasi sämtliche Straßenzüge der damaligen „Stadt der Auslandsdeutschen“ zu fotografieren: Haus für Haus, Straßenecke für Straßenecke. Die Beamten waren zwar keine ausgebildeten Fotografen. Aber die Fototechnik war doch schon so fortgeschritten und verbreitet, dass sich auch mitten im Krieg noch genügend Verwaltungsleute fanden, die eine Kamera zu bedienen wussten.

Die Beamten bekamen einzelne Bezirke zugeteilt, die sie zu fotografieren hatten – mal verknipsten sie nur ein oder zwei Filme, mal schossen sie mehrere Hundert Bilder. Schon damals wurde auf Kleinbild fotografiert, schon damals passten auf einen Film 36 Fotos. In dem Bestand finden sich keine großformatigen Bilder, sondern nur sogenannte Kontaktabzüge – und dazu Dutzende Schreibmaschinenlisten, die zu jedem Motiv akribisch vermerken, welche Straße und welche Straßenecke fotografiert ist, dazu gegebenenfalls Hinweise auf wichtige Gebäude oder Detailangaben zu den Bildern.

Warum wurden die Bilder aufgenommen?

Da kam also einiges an Material zusammen. Warum sich die Stadtverwaltung diese Mühe gemacht hat, lässt sich nicht mehr eindeutig nachvollziehen. Es ist bekannt, dass die Nazi-Herrscher Stuttgart nach Kriegsende vermutlich stark umgebaut hätten. Vor diesem Hintergrund erschiene es zumindest plausibel, dass das Stadtplanungsamt das damalige Stadtbild erfassen sollte. Als eine der wichtigsten Aufgaben des Jahres 1942 erwähnte der Verwaltungsbericht des Stuttgarter Oberbürgermeisters die „Organisation der Kleinbild-Fotoaufnahmen aller wichtigen Strassen- und Stadtbilder Gross-Stuttgarts und Anlegung einer Registratur mit Plänen“.

Man konnte damals ja noch nicht ahnen, dass die Stadt drei Jahre später in Schutt und Asche liegen würde. Aus heutiger Sicht wirkt es vielleicht eher so, als habe die Verwaltung eben jenes alte Stuttgart konservieren wollen, das in dem sich andeutenden Bombenkrieg möglicherweise untergehen würde. „Aber dann ist es doch eigentümlich, dass man den Park der Villa Berg aufnimmt und das schon 1937 eingemeindete Sillenbuch weglässt“, sagt der Leiter des Stadtarchivs, Roland Müller.

Nach Jahrzehnten erfasst

Stuttgart wurde im Luftkrieg zerstört, der Bildbestand aber nicht – wie genau, das lässt sich heute nicht mehr nachvollziehen. „Gut möglich, dass jemand die Bilder unter den Arm geklemmt und vor der Vernichtung gerettet hat“, sagt der Stadtarchivleiter Müller. Jedenfalls wurden die Bilder 1970 dem Stadtarchiv übergeben. Dort lagerten sie vierzig Jahre lang, ehe sie 2011 erfasst und wegen des relativ großen Interesses der Stadtarchiv-Nutzer wenig später digitalisiert wurden.

Gleichwohl ist der Bestand in der allgemeinen Öffentlichkeit kaum bekannt – und vielleicht erst jetzt, fast 80 Jahre nach seinem Entstehen, so richtig interessant. Für unser Projekt „Stuttgart 1942“ haben wir den Bildbestand und die dazugehörigen Listen vollständig und automatisiert erfasst und machen die Fotos per Volltext-Bildersuche zugänglich. Außerdem nutzen wir die Bilder aus Grundlage für eine ausführliche Berichterstattung, die ein Licht auf den Alltag im Stuttgart des Jahres 1942 wirft.