Wasserwerfer, Absperrungen, mehrere Hundert Polizisten: Mit einer erdrückenden Übermacht hat die Istanbuler Polizei einen neuen Protestmarsch der Samstagsmütter verhindert. Diese fordern Aufklärung über das Schicksal ihrer vom Staat verschleppten Verwandten.

Istanbul - Das Dröhnen von Motoren erfüllte am Samstag den Galatasaray-Platz in Istanbul, auf dem sonst die Samstagsmütter ihre stille Mahnwache halten. Dutzende Wasserwerfer, Polizeibusse, Löschfahrzeuge und Rettungswagen warteten mit laufenden Motoren auf den Einsatz. Sonst regte sich nichts auf dem sonst so belebten Platz: Die Zugänge waren seit dem frühen Morgen abgeriegelt, bewaffnete Einsatzkräfte sperrten die Fußgängerzone ab und verwehrten allen Passanten den Durchgang. Zur Mittagszeit schritt nur eine kleine Katze über den menschenleeren Platz, auf dem die Samstagsmütter sonst immer inmitten des Einkaufstrubels saßen. Die Botschaft der Staatsgewalt war deutlich: Wagt es nicht, an Auflehnung auch nur zu denken, sagte das Großaufgebot von Tausenden Einsatzkräften mit ihrem schweren Gerät.

 

Das Demonstrationsverbot macht kurz vor dem Türkei-Besuch von Bundesaußenminister Heiko Maas an diesem Mittwoch deutlich, dass die Regierung in Ankara nicht daran denkt, den Demokratie-Abbau zu stoppen. Von einer „Zeit der Unbarmherzigkeit und der Ungerechtigkeit“ spricht Literatur-Nobelpreisträger Orhan Pamuk. Die Tage, in denen es in der Türkei „Verständnis, Mitgefühl und Zuhören“ gegeben habe, seien vorbei, schrieb Pamuk in der Oppositionszeitung „Cumhuriyet“ in einem Beitrag über die Samstagsmütter.

Sicherheitskräfte wollen protest im Keim ersticken

Vor einer Woche hatte die Polizei die Kundgebung der Frauen mit Gewalt beendet und rund 50 Teilnehmer festgenommen. Diesmal besetzten die Sicherheitskräfte von vornherein den Galatasaray-Platz, um den Protest im Keim zu ersticken. Als sich dennoch aus einer Seitenstraße heraus ein Demonstrationszug der Samstagsmütter in Gang setzte, wurde dieser aufgehalten. Die Zahl der Polizisten in der Innenstadt überstieg die der Demonstranten um ein Vielfaches.

Die Samstagsmütter fordern Aufklärung über das Schicksal ihrer Angehörigen, die im Kurdenkonflikt vom Staat verschleppt wurden, und demonstrieren seit Jahren jede Woche schweigend für ihr Anliegen – doch die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan sieht in den Aktionen eine Provokation der verbotenen Terrororganisation PKK und will die Kundgebungen nicht mehr zulassen. Einen Dialog mit den Samstagsmüttern lehnt die Regierung ab. Erdogan ließ die Bitte der Frauen um ein Gespräch unbeantwortet. Vergeblich wandte sich die 82-jährige Emine Ocak, die 1995 ihren Sohn Hasan verlor, an den Staatspräsidenten. „Du hast doch auch Söhne und Enkel“, sagte sie. Angesichts der erdrückenden Übermacht der Polizei zerstreuten sich die Demonstranten – betonten aber, sie würden es in einer Woche wieder versuchen.

Türkei hofft auf wirtschaftliche Hilfe des Westens

Die allergische Reaktion der Regierung selbst auf friedliche Versammlungen widerspricht ihrem erst vor wenigen Tagen erneuerten Bekenntnis zur türkischen EU-Bewerbung. Vor allem in der Hoffnung auf wirtschaftliche Hilfe inmitten der Krise im Verhältnis zu den USA will die Türkei ihre Beziehungen zu Europa verbessern und hat eine neue europapolitische Offensive angekündigt. Auch der Besuch von Maas – die erste Visite eines deutschen Außenministers in Ankara seit mehr als einem Jahr – und Erdogans geplante Reise nach Berlin Ende des Monats sind Versuche der Wiederannäherung. Vor seinem Staatsbesuch in Deutschland schickt Erdogan zudem seinen Schwiegersohn und Finanzminister Berat Albayrak zu Gesprächen mit der Bundesregierung nach Deutschland.

Trotz der Lippenbekenntnisse zu Europa bleibe es in der Türkei beim Druck auf Andersdenkende, sagte der Menschenrechtler und Oppositionsabgeordnete Sezgin Tanrikulu unserer Zeitung in Istanbul. Die Führung in Ankara erkläre alle Kritiker zu Feinden und treibe so die Polarisierung der Gesellschaft voran. Europa habe auf die Entwicklung nur wenig Einfluss, betonte Tanrikulu. Kritik von Maas oder anderen europäischen Politikern werde in Ankara nicht als Hinweis von Freunden, sondern als Einmischung verstanden. „Ich glaube nicht, dass sich das Regime ändern wird.“ Auch Erdogan selbst ließ erkennen, dass er den Europäern nach wie vor nicht traut. Die EU habe Zusagen gegenüber der Türkei ebenso wenig eingehalten wie die USA, sagte der türkische Präsident. Bei der türkischen EU-Bewerbung habe Europa die Beitrittskriterien ständig verändert, beklagte er.