Ein Heilerzieher hat in der Dorfgemeinschaft Tennental bei Deckenpfronn jahrelang mehrere Frauen vergewaltigt, nun sind sein Vater und dessen Partnerin angeklagt.

Böblingen: Kathrin Haasis (kat)

Deckenpfronn - Der Täter selbst brachte den Fall ans Licht: Anfang 2020 ging der Heilerziehungspfleger zur Polizei, „um reinen Tisch zu machen“. Mindestens acht Bewohnerinnen der Dorfgemeinschaft Tennental hat er zwischen 2005 und Herbst 2019 sexuell missbraucht, in einem Fall kam es zu einer Vergewaltigung. Der heute 31-Jährige nutzte aus, dass sich die geistig behinderten Frauen nicht wehren konnten. Im vergangenen November ist er zu einer Haftstrafe von vier Jahren verurteilt und auf unbestimmte Zeit in die geschlossene Psychiatrie eingewiesen worden. Nun sind sein Vater und dessen Lebensgefährtin am Amtsgericht Böblingen angeklagt – wegen Beihilfe zu sexuellem Missbrauch. Beide arbeiteten jahrelang in verantwortlichen Positionen in der Dorfgemeinschaft und sollen die Taten des jungen Mannes vertuscht haben.

 

Die Angeklagten äußern sich nicht

Die Staatsanwaltschaft ist überzeugt davon, dass es dafür genug Beweise und Zeugen gibt. Die Familie wird allerdings nichts zur Aufklärung beitragen. Der Vater ignoriert den Ratschlag des Sohnes: In einer Telefonnachricht hatte der Heilerziehungspfleger den heute 66-Jährigen dazu aufgefordert, ebenfalls reinen Tisch zu machen. Doch zu den Vorwürfen äußern sich der Angeklagte sowie seine Lebensgefährtin nicht. Bei allen Befragungen hatten sie stets erklärt, von nichts zu wissen. Der 57-Jährigen wurde bereits eine Falschaussage nachgewiesen, weil sie in einer polizeilichen Vernehmung sogar den Missbrauch der eigenen Tochter durch ihren Stiefsohn abgestritten hat. Sie selbst hatte den damals 13-Jährigen beim Versuch erwischt, in das acht Jahre alte Mädchen einzudringen. Es soll kein Einzelfall gewesen sein. Die heute 26-jährige Tochter bestätigte die Vorfälle gegenüber der Polizei, in dem Prozess will sie aber ihr Zeugnisverweigerungsrecht nutzen. Der Heilerziehungspfleger möchte auch keine Angaben machen.

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Die Familie ist eng mit den anthroposophischen Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen verwoben. Der 66-Jährige begann 1978 für die Dorfgemeinschaft Lautenbach beim Bodensee zu arbeiten, seine erste und seine zweite Frau lernte er dort kennen, seine fünf Kinder kamen dort zur Welt. Nach 16 Jahren wechselte er in die Dependance nach Deckenpfronn – womöglich , weil es in Lautenbach laut der Polizei zu einem sexuellen Übergriff durch ihn gekommen sein soll. In Tennental war er als Betreuer tätig, Werkstattleiter und Wohnbereichsleiter. Von 1995 bis 2015 saß er im Vorstand des Vereins. Nachdem seine zweite Ehe zerbrochen war, kam er mit der Angeklagten zusammen, die ebenfalls 1994 als Heilerziehungspflegerin in der Dorfgemeinschaft gekommen war. Von 2001 an war sie zusammen mit ihrem Partner und wechselnden Kollegen für eines der Wohnhäuser verantwortlich, das Paar wohnte unter einem Dach mit den von ihnen betreuten Menschen.

Meldungen werden als Fantasien abgetan

Der Sohn des Angeklagten beging als 14-Jähriger seine erste Tat: Er befingerte er eine fast 20 Jahre ältere Frau im Intimbereich. Nachts kam er zu seinen Opfern ins Zimmer, einmal bei seinen Besuchen, da war er mittlerweile 20 Jahre alt, vollzog er den Geschlechtsverkehr. So weit sie konnten, wehrten sich die Frauen gegen seine Berührungen. Mindestens drei von ihnen beschwerten sich bei ihren Pflegern über die nächtlichen Besuche. Immer wieder waren sexuelle Übergriffe durch einen Mann in Tennental Thema, doch die Berichte der betroffenen Frauen wurden laut den Schilderungen geradezu unter den Teppich gekehrt.

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Eine als Zeugin geladene Mitarbeiterin berichtete beispielsweise, wie ihr Schützling eines Morgens weinte und ihr erzählte, dass sie in der Nacht von einem Mann gestört worden sei, der ihr „aua gemacht“ habe. Drei Mal meldete sie solche Vorfälle ihrer Vorgesetzten, doch von der für das Haus verantwortlichen Kollegin seien sie als Fantasien abgetan worden. Sie solle es den Eltern nicht weitersagen, um sie nicht zu beunruhigen. lautete ihr Ratschlag. „Ich hätte mich mal nachts auf die Lauer gelegt“, sagte die Zeugin. Damals war der Angeklagte Chef der Dorfgemeinschaft.

Den Angeklagten wurde fristlos gekündigt

Schilderungen einer jungen Bewohnerin, die mit dem Downsyndrom auf die Welt gekommen ist, wurden als glatte Lüge deklariert. Die junge Frau konnte im Gegensatz zu anderen Opfern den Täter auch benennen. Sie musste daraufhin ein Schriftstück unterschreiben, dass der junge Heilerziehungspfleger nicht nachts zu ihr gekommen war. Einige Jahre später stand er wieder an ihrem Bett. Sie lebte zu dem Zeitpunkt in dem Haus, für das die Angeklagten verantwortlich waren. In den Akten fand die Polizei keinen Eintrag dazu.

Den beiden Angeklagten wurde nach Bekanntwerden der Taten fristlos gekündigt. Seither leben sie beim Vater der 57-Jährigen. Sie befinde sich in psychotherapeutischer Behandlung, um „die belastende Situation und die traumatischen Ereignisse aufzuarbeiten“, sagte die Frau. Von Schock, Angst und Depressionen berichtet ihr Partner. Er habe die lange Wartezeit bis zum Prozessbeginn genutzt, „um innerlich und äußerlich auszumisten“, erklärte er vor Gericht.