Fünf Menschen starben im August unter einem umgekippten Müllwagen. Dieser begrub den Golf der Familie unter sich. Jetzt steht der Fahrer vor Gericht.

Tübingen - Die Sätze sind wirr verknotet, seine Hände zittern. Kaum zu verstehen ist der 55-jährige Unglücksfahrer mit dem grauen Schnauzer und dem karierten Hemd, der immer wieder vor sich hin nuschelt, er habe doch noch gebremst. Er habe Probleme gehabt mit dem Pedal, das nicht reagierte. Alles sei so furchtbar schnell gegangen. Er bricht in Tränen aus, lässt den Kopf hängen.

 

Vor der Großen Strafkammer des Tübinger Landgerichts muss sich der Müllwagenfahrer aus Calw an diesem Mittwochnachmittag wegen fahrlässiger Tötung in fünf Fällen verantworten. Am 11. August 2017 saß er bei Nagold im Kreis Calw am Steuer eines 20 Tonnen schweren Lasters, der umgekippt ist und ein Auto zerquetscht hat. Alle fünf Insassen, eine Schaustellerfamilie, kamen ums Leben: die 25-jährige Fahrerin, ihr 22-jähriger Lebensgefährte, ihre zweijährige Töchter, ihr wenige Wochen altes Baby und die 17-jährige Schwester der Fahrerin.

Der Müllwagen begrub den Golf der Familie unter sich – die Familie hatte keine Chance

Es war an einem Freitagmittag, kurz vor Schichtende, als sich die Tragödie ereignete. Noch drei Stationen hätten der gebürtige Kasache und sein 26-jähriger Beifahrer auf ihrer Tour vor sich gehabt, sie sammelten seit sechs Uhr morgens im Auftrag eines Entsorgungsunternehmens Altholz ein, klapperten den Landkreis ab. Schnell, viel zu schnell, war der Wagen auf der abschüssigen Fahrbahn zwischen dem Nagolder Industriegebiet Wolfsberg und der Landesstraße 361 unterwegs. Statt Tempo 30, was angemessen gewesen wäre, sei der Angeklagte mit 51 Stundenkilometern gefahren, betonte der Staatsanwalt. Zu spät habe dieser erkannt, dass er die Linkskurve vor sich so nicht gefahrlos befahren konnte und der Lastwagen außer Kontrolle geraten würde. Bereits schlingernd bog der Laster nach rechts in die Landesstraße Richtung Mötzingen ab. Eine verhängnisvolle Kurve. Der Müllwagen driftete auf die Gegenfahrbahn, fiel um und begrub den entgegenkommenden Golf unter sich. Die Familie im Wagen hatte keine Chance.

Es habe Schwierigkeiten mit der Bremse des Müllwagens gegeben, behauptete der Fahrer mehrfach auf Nachfrage und verhedderte sich dabei in endlosen Details. Seit dem Unfall sei der 55-Jährige psychisch schwer angeschlagen und leide unter einer posttraumatischen Belastungsstörung erklärte dessen Verteidiger, der Tübinger Rechtsanwalt Thomas Weiskirchner. „Er ist ein Opfer seiner Tat geworden, die ihn zeit seines Lebens belasten wird.“ Auf keinen Fall sei er ein Krimineller, der weggesperrt gehöre. Während eines Klinikaufenthalts in der Psychiatrie von Zwiefalten berichtete der Unglücksfahrer den Ärzten von Todesängsten, von Schlafstörungen, so steht es im Entlassbericht des Patienten, der von der Vorsitzenden Richterin vorgelesen wurde. Nichts fürchte er mehr als die Blutrache der Schausteller.

Der Seelsorger Johannes Bräuchle kennt die Geschichte wie kein anderer

Drei Engel auf einer Steinplatte erinnern am Unfallort an die toten Erwachsenen, dazwischen stehen zwei Grablichter mit Bärchen und Herzen darauf für die Kinder. Jemand hat Plüschtiere dazugelegt. Die Böschung ist kahl, kein Gestrüpp, blanke Steine. „Hier hat die Fahrerin den Wagen zur Seite gezogen, sie wollte ausweichen“, sagt Johannes Bräuchle und zeigt auf den Hang am Straßenrand. „Eine Sekunde schneller, dann wären sie noch am Leben, es war knapp.“ Der Stuttgarter Schausteller- und Zirkusseelsorger kennt die traurige Geschichte der Verunglückten so gut wie kein anderer Außenstehender. Der 70-Jährige mit den Goldkronen und der Freude an der Zirkuswelt hat die Hinterbliebenen begleitet, die Toten beerdigt. Ein Abschied mit 1500 Gästen, Zirkusleute aus ganz Deutschland, Österreich und der Schweiz waren angereist. Statt Musik gab es Stille, statt langen Reden ein gemeinsames Vater Unser. „Der letzte Vorhang ist gefallen“, hat Bräuchle vor der Trauergemeinde gepredigt, dann stiegen 100 Luftballons auf.

Monstertrucks haben das junge Paar zusammengebracht, PS-getriebene Shows mit dicken Reifen und noch dickeren Angebergefährten. Mit den Aufführungen verdienten sie ihr Geld. Beide stammen aus Schausteller- und Zirkusfamilien, die seit Jahrzehnten mit Wagen und Zelten durch Deutschland reisen. Sie gehört der Frank-Dynastie an, einem weitverzweigten Clan, bis vor einigen Jahren betrieben die Franks den Zirkus Charles Monti. Er stammt aus einer Familie, die ebenfalls seit Generationen auf Budenzauber und Artistenkunst setzt. Zuletzt haben sie wie die Franks hochgetunte Autos vor zahlendem Publikum auf Baummarktparkplätzen zum Fliegen gebracht oder Kleinwagen mal kurz mit einem Truck überrollt. „Er war ein Motormensch“, sagen seine Freunde über den Toten, ein Showman, der sich am liebsten aufs Quad mit seinen vier Rädern setzte und abhob. Sie war das Stuntgirl in den Vorstellungen, saß selbst am Steuer, konnte fahren wie die Männer. Auch ihre jüngere Schwester machte bei der Autoakrobatik mit, Schaustellerei ist Familienangelegenheit.

Das Grab auf dem Friedhof in Mötzingen ist ein Pilgerort für die Schausteller

Der Tod hat die Trucks zum Stillstand gebracht. Ein Jahr lang – mindestens – muss getrauert werden, so ist es üblich unter Zirkusleuten. Auf dem Friedhof von Mötzingen ist das Grab der Familie zu einem Pilgerort für die Schausteller geworden, zu einer Stätte des Trostes, in Hellrosa, Hellblau und Gold, mit Säulen und Marienstatuen. Auf der Bank vor der üppigen Grabanlage sitzen die Angehörigen, oft viele Stunden am Tag. Die Franks haben ihr Winterquartier ganz in der Nähe aufgeschlagen, um möglichst nah bei der Tochter und den Enkeln sein zu können.

Die andere Familie wohnt schon lange in Mötzingen. Im Industriegebiet am Ortsrand, keine fünf Minuten vom Friedhof entfernt, stehen ausgebaute Wohnwagen, Würstchenbuden und Container. Auch an diesem sonnigen Morgen, ein Tag vor dem Prozess, sind Familienmitglieder ans Grab gekommen, drei Männer gekleidet in Schwarz. Sie räumen die kleinen Figuren auf dem Kunstrasen ab, kehren mit einem Besen zwischen Engeln und Steinherzen, putzen die Laternen. Sie wollen allein gelassen werden, keiner aus der Familie spricht mit der Presse.

Der Vater will Gerechtigkeit

Pfarrer Bräuchle rät vorsichtshalber zu Abstand, er lässt das Grab links liegen und geht weiter zur Aussegnungshalle. „Artisten dürfen sich nicht trauernd zeigen, die leben von der Show, vom Glitzer und Glamour“, sagt er halb entschuldigend. Emotional und manchmal auch ganz schön cholerisch ginge es unter den Schaustellern zu, „da schlagen die Wellen schnell hoch“. Bräuchle weiß um die Sorgen der Familien, um ihre wirtschaftlichen Schwierigkeiten. „Die können nicht mehr, die sind in ihrer Existenz bedroht“, sagt er und erzählt, dass der Vater der Mötzinger Familie die Monstertrucks und Autos verkauft habe. Zu sehr hätten sie ihn an das Unglück erinnert.

Der andere Vater, der zwei Töchter und Enkel und seinen Schwiegersohn verloren hat, steht am Grab und legt den Kehrbesen weg. Er wolle Gerechtigkeit, sagt er zum Pfarrer. Der Müllwagenmann sei an allem Schuld, er müsse büßen. Bis zu fünf Jahre Haft sieht das Strafgesetzbuch vor, sagt der Staatsanwalt und dass, die Bremsanlage laut Gutachter technisch einwandfrei gewesen sei. Der Fahrer müsse wohl einen Fehler gemacht haben. Noch zwei weitere Prozesstage sind angesetzt, am 19. März soll das Urteil fallen.