Das Verfahren gegen die mutmaßlichen Entführer von Jolanta S. geht weiter. Sie war vor einem Jahr aus dem Rems-Murr-Kreis verschleppt worden. Zeugenaussagen bringen erschütternde Details des Falles ans Licht.

Rems-Murr: Phillip Weingand (wei)

Stuttgart/Aspach - Jolanta S. hatte bisher kein leichtes Leben. Nicht nur, dass die 48-Jährige jahrelang eine Beziehung mit einem Mann geführt hat, der sie schlug und emotional unter Druck setzte. Nicht nur, dass eben dieser Mann sie nach der Trennung zusammen mit einem Komplizen von Großaspach (Rems-Murr-Kreis) nach Frankreich verschleppt hat und eine Woche lang in seiner Gewalt hielt: Vor dem Landgericht in Stuttgart brachte am Dienstag ein Polizist zur Sprache, dass S. in ihrer Kindheit zum Opfer sexuellen Missbrauchs geworden sei. All dies hat der Altenpflegerin sehr schwer zugesetzt.

 

Am 3. Juni 2019 kam Jolanta S., die zu dieser Zeit als Altenpflegerin in Aspach (Rems-Murr-Kreis) arbeitete, nicht aus der Mittagspause wieder. Bald schon verdichteten sich damals Hinweise darauf, dass möglicherweise ihr Ex-Freund Maciej I. die Trennung von seiner langjährigen Lebensgefährtin nicht verkraftet und die Frau deswegen verschleppt hatte.

Das Opfer muss dem Peiniger eine SMS buchstabieren

Die Aussagen der Polizisten im Prozess brachten erschütternde Details der Entführung ans Licht. So hätten Zeugen beobachtet, wie ein Wohnmobil fluchtartig einen Parkplatz der Mechatronik-Arena verlassen habe. Aus dem Auto hätten sie Schreie einer Frau gehört. Vermutlich handelte es sich um Jolanta S., der beim schnellen Losfahren ein Topf heißen Wassers über den Fuß kippte.

Am Abend der Entführung erhielt die Tochter einer Seniorin, um die sich Jolanta S. gekümmert hat, eine SMS von der Handynummer der Pflegerin. Sie war in schlechtem Deutsch verfasst – „und anders formuliert als Frau S. normalerweise schreibt“, wie einer der Ermittler sagte. Ihm hat Jolanta S. später erzählt, sie habe ihrem Peiniger die Nachricht buchstabieren müssen.

Odyssee durch das deutsch-französische Grenzgebiet

Dies war nicht die einzige Kontaktaufnahme: Tatsächlich durfte die damals 47-Jährige aus dem Wohnmobil kurz bei ihrer erwachsenen Tochter in ihrer polnischen Heimat anrufen. „Sie hat sehr geweint, ihre Tochter hatte den Eindruck, sie will sich verabschieden“, berichtete der Kriminalhauptkommissar.

Jolanta S. sagte der Polizei, Maciej I. habe mit seinem Komplizen darüber gesprochen, sie zu töten, und ihr mit dem Tode gedroht. Warum die Fahrt im Wohnmobil nach Frankreich führte, ist unklar: Einer der Verteidiger spekulierte, dass eine falsche Angabe im Navigationsgerät die Männer statt nach Waiblingen-Hegnach nach Haguenau im Allgäu führte. Dort fuhr sich das Wohnmobil fest, die beiden Entführer und ihr Opfer schlugen sich zu Fuß durch die Wälder im Grenzgebiet.

Das Handeln der Täter scheint weniger planvoll als verzweifelt gewesen zu sein: Immer wieder wurden sie beim Einkaufen gesehen, einmal zeigten sie ein Foto der vereiterten Brandverletzung von Jolanta S. in einer Apotheke. Nach einem der Einkäufe gelang es französischen Ermittlern, sich an die Fersen der Männer zu heften und am Nachmittag des 11. Juni 2019 schließlich zuzugreifen.

Verteidiger: Warum versuchte das Opfer nicht zu fliehen?

Die Verteidigung zieht nun die Schilderungen und das Handeln des Opfers in Zweifel: Die Rechtsanwälte wollten von dem Polizisten zum Beispiel wissen, warum Jolanta S. denn nicht geflohen sei. Immerhin hatten die Männer ihr Opfer allein in einem Zelt zurückgelassen und waren losgegangen, um Vorräte zu holen. Jolanta S. unternahm keinen Fluchtversuch. Auch nicht, als ein Jagdpächter das Trio entdeckte und fortschickte, weil er offenbar zunächst davon ausging, es handle sich um illegale Camper.

„Sie konnte wegen der Fußverletzung schlecht laufen und hatte keine Ahnung, wo sie sich überhaupt befand“, sagte der Ermittler. Außerdem habe Jolanta S. wegen ständiger Drohungen ihres Ex-Freunds große Angst gehabt.

Am 8. Juni geht der Prozess gegen die beiden mutmaßlichen Geiselnehmer weiter. Dann wollen sich die beiden Angeklagten erstmals zu den Vorwürfen äußern – und auch das Opfer soll an diesem Tag seine Erlebnisse schildern.