Die Hürden für Bürgerentscheide sind hoch. Das musste die Stuttgarter Radlerlobby nun erfahren. Doch es ist ohnehin nicht immer klug, was das Volk entscheidet, meint Lokalchef Holger Gayer.

Chefredaktion : Holger Gayer (hog)

Stuttgart - Eine der wichtigsten gymnastischen Übungen dieser Tage ist der ausgestreckte Zeigefinger. Er weist gen Westen und trifft dort auf Briten, die sich in einer Volksabstimmung dafür entschieden haben, die EU zu verlassen. Seither regiert auf der Insel das James-Dean-Motto: Denn sie wissen nicht, was sie tun. Doch wie sollen die Politiker auch auslöffeln, was ihnen die Menschen eingebrockt haben?

 

Dabei quält Volkes Stimme nicht nur die britische Premierministerin Theresa May. Auch ein hiesiger Ministerpräsident namens Kretschmann knurrte neulich, dass direktdemokratische Entscheidungen so „schwer zu korrigieren“ seien. Da hatte die Bahn gerade offenbart, den S-Bahn-Halt am Flughafen für ein Jahr abzuhängen. Obwohl Bürgerbeteiligung zu den Lieblingswörtern des Landesvaters zählt, erkannte Kretschmann, dass Prozesse wie bei S 21, wo „die Kosten aus dem Ruder laufen“, das Vertrauen in die handelnden Organe schwäche. Alles sei eingetreten, „was wir als Gegner an die Wand gemalt haben“. Dennoch sei er seit dem Volksentscheid verpflichtet, das Projekt „positiv zu begleiten“.

S 21 und der Brexit lösen Zweifel an Volksabstimmungen aus

Fast gleichlautende Sätze hatte der Regierungschef ein Jahr zuvor gesprochen, als die Bahn mitteilte, dass sie den Flughafen eher mit Bummelzügen als mit ICEs anfahren werde. Und was wird er wohl sagen, wenn demnächst die Kostensteigerung auf zehn Milliarden verkündet wird?

Nun sind Brexit und Stuttgart 21 in der Qualität ihrer Dramatik nicht zu vergleichen: Der eine stürzt ein gesamtes Land ins Chaos, das andere vergräbt nur einen Haufen Geld unter der Erde – in der Hoffnung, eines Tages doch noch ein Monument zu haben, das die Stadt der Zukunft prägt wie es die Elbphilharmonie nun in Hamburg tut. Gemein ist beiden Phänomenen aber, dass sie ein Fanal für die Sinnhaftigkeit der direkten Demokratie sind. Sowohl der Brexit als auch Stuttgart 21 zeigen, wie leicht Menschen von Parolen beeinflusst werden können, die einer Realitätsprüfung nicht standhalten. Mit einer größeren Portion Wahrhaftigkeit im Vorfeld der Entscheidungen, hätte das Volk in beiden Fällen ein fundierteres Urteil sprechen können.

Der Radentscheid war politischer Mumpitz

Wie leichtfertig einzelne Interessengruppen bisweilen mit den Bürgern umgehen, zeigt im Kleinen auch der Stuttgarter Radentscheid. Elf Forderungen haben die Pedallobbyisten aufgestellt und so getan, als könnten diese in einem Bürgerentscheid durchgesetzt werden. Mehr als 35 000 Stuttgarterinnen und Stuttgarter haben sie zur Unterschrift bewegt, weil die Ideen für mehr Radverkehr in der Stadt ja wirklich plausibel sind. Absehbar war aber auch, dass eine Volksabstimmung zu diesen Thesen politischer Mumpitz ist – und rechtlich unmöglich obendrein. So urteilten in dieser Woche jedenfalls die Gutachter der Stadt. Jetzt müssen die Initiatoren den Menschen erklären, dass ihre Forderungen trotzdem gut sind, auch wenn sie mit ihrem Ziel („Bei einem Bürgerentscheid können wir selber entscheiden, wie es mit der Radpolitik in Stuttgart weitergeht“) mit Anlauf gescheitert sind. Dass die Mehrheit im demokratisch gewählten Gemeinderat sich die Thesen der Radfreunde längst zu eigen gemacht hat, lässt das Festhalten der Initiatoren an ihrem Bürgerentscheid noch absurder erscheinen.

Daher ist es höchste Zeit, mal wieder eine Lanze zu brechen für die repräsentative Demokratie. Sie ist die beste Staatsform, die dieses Land je hatte – eben weil alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht, das seine Vertreter frei wählt, aber auch weil die Hürden für Volksentscheide so hoch sind. Und wer es noch nicht auf dem Schirm haben sollte: Wir haben bald wieder die Wahl. Am 26. Mai bestimmen wir, wen wir wollen – im Gemeinderat und im Europaparlament.