Tony Martin startet an diesem Samstag in seine zwölfte Frankreich-Rundfahrt. Er ist einer der wichtigsten Helfer von Mitfavorit Primoz Roglic – und einer, der seine Meinung sagt: zu den Corona-Einschränkungen, zur Sturzgefahr, zum Doping.

Stuttgart/Nizza - Tony Martin (35) ist voll fokussiert auf die Tour de France, jeder Moment der Vorbereitung zählt. Während des Interviews strampelt er in seinem Hotel in Nizza auf dem Ergometer – und hat trotzdem genügend Luft für prägnante Antworten.

 

Herr Martin, kurz vor dem Start zu Ihrer zwölften Tour de France haben Sie Ihren Vertrag bei Jumbo-Visma um zwei Jahre verlängert. Wo nehmen Sie die Motivation her?

Motivation war noch nie mein Problem.

Sondern?

Ich liebe den Radsport und seinen Lifestyle, bin als Radprofi glücklich. Trotzdem habe ich vor der Unterschrift lange überlegt, weil es auch zwei negative Aspekte gibt.

Lesen Sie hier: Fünf Tour-Favoriten, viele Fragezeichen

Welche?

Die vielen Phasen, in denen ich weg von der Familie bin. Und die schweren Stürze. Man stellt sich schon die Frage, ob es der Radsport wert ist, weiterhin sein Leben zu riskieren.

Offenbar ist er es.

Am Ende ist der Mensch eben ein Meister im Verdrängen – die Freude am Sport hat die Zweifel ausgestochen. Und dazu kam, dass ich nach einem Jahr, in dem nichts normal war, nicht einfach meine Sachen zusammenpacken wollte.

„Ich sehe für uns keine Gefahr“

Die Corona-Pandemie hat große Auswirkungen auf die Tour de France 2020, jedes Team lebt in seiner Blase. Wie fühlt sich das an?

Die Sicherheits- und Hygienekonzepte haben zuletzt bei der Dauphine-Rundfahrt gut gegriffen. Ich sehe für uns keine Gefahr, die Tour zu bestreiten.

Weil Sie ein Meister des Verdrängens sind?

Nein, ich fühle mich tatsächlich sicher. Aber natürlich versucht man als Sportler auch, sich auf den Wettkampf zu fokussieren und das negative Drumherum auszublenden.

Könnte es sein, dass die Tour wegen des Virus’ abgebrochen werden muss?

Die Sorge ist auf jeden Fall da. Es schwebt wie ein Damoklesschwert über uns, dass jeder Tag der letzte sein kann.

Dazu kommt die Fan-Beschränkung. Befürchten Sie eine Tour, der die Atmosphäre fehlt?

Nein. Und wenn, müsste das für uns Fahrer gar nicht negativ sein. Ich bin stolz auf die Aufmerksamkeit, die der Radsport bei der Tour generiert. Aber darauf, ständig von Fans angebrüllt zu werden, und natürlich auch auf die gefährlichen Situationen, die durch Zuschauer hervorgerufen werden, kann ich ganz gut verzichten.

„Die Rolle des Teamplayers entspricht meinem Naturell“

Es wird immer über die große Faszination der Frankreich-Rundfahrt gesprochen . . .

. . . und das wird sich auch diesmal nicht ändern. Die Tour bleibt die Tour, sie ist für uns Radprofis mehr wert als die WM und Olympische Spiele zusammen. Corona hin oder her: Dieses Rennen wird Fans und Fahrer erneut drei Wochen lang faszinieren und wieder viele schöne, höchst interessante Geschichten schreiben – auf die ich selbst schon gespannt bin.

Welches Kapitel werden Sie beitragen?

Persönlich habe ich keinerlei Ambitionen. Ich bin da, um zu 100 Prozent für meinen Kapitän Primoz Roglic zu arbeiten.

Lesen Sie hier: Warum der Tour de France ein Test-Chaos droht

Das stellt Sie zufrieden?

Absolut. Ich bin ein Teamplayer, diese Rolle entspricht meinem Naturell. Es reicht mir, wenn ich von meinem Team für das, was ich tue, geschätzt werde. Und das ist der Fall!

Was ist das Ziel von Jumbo-Visma?

Ums Gelbe Trikot zu kämpfen. Wobei ich nicht weiß, ob wir glücklich sein werden, wenn Primoz Roglic am Ende Zweiter oder Dritter wird.

Viele erwarten ein Duell zwischen Roglic und Titelverteidiger Egan Bernal. Sie auch?

Ja. Es hat sich zuletzt bei der Dauphine gezeigt, dass wohl niemand in der Lage sein wird, in diesen Zweikampf einzugreifen.

Wie wird er ausgehen?

Meine Eindrücke passen zu den Ergebnissen der letzten Wochen: Roglic ist ganz klar der Top-Favorit – er hat ein unglaubliches physisches Potenzial. Und er ist mental sehr stark: Er baut sich äußerlich keinen Druck auf, verfügt über eine enorme Gelassenheit.

„Schwere Stürze werden billigend in Kauf genommen“

Zuletzt wurde der Radsport hart erwischt, es gab etliche schwere, teils lebensgefährliche Stürze. Befürchten Sie, dass sich diese Unglücksserie bei der Tour fortsetzt?

Ich hoffe nicht. Allerdings wird bei der Tour extrem nervös gefahren, immer voll reingehalten. Deshalb ist es nicht auszuschließen.

Gibt es einen Grund für die vielen Stürze in den vergangenen Wochen?

In erster Linie liegt es daran, dass es wieder mal einige Organisatoren und der Radsport-Weltverband UCI versäumt haben, Gefahrenstellen richtig abzusichern. Dass einige Unfälle dann so schlimme Folgen hatten, ist wohl auch ein tragischer Zufall – der die Veranstalter und die UCI aber natürlich nicht freispricht: Viele Gefahrenstellen sind bekannt, sie müssen endlich eliminiert werden.

Das fordern die Profis schon jahrelang. Warum wird nicht auf sie gehört?

Das weiß ich nicht, allerdings stelle ich mir die Frage in dem Zusammenhang auch nicht.

Wieso?

Weil einem ja schon der gesunde Menschenverstand sagt, dass sich etwas ändern muss. Dazu braucht es keine Forderungen von uns.

Können Sie uns ein Beispiel nennen?

Nehmen Sie die Abfahrt bei der Dauphine, bei der Roglic, Buchmann und Kruijswijk gestürzt sind. Da lag Rollsplit in den Kurven, es gab riesige Schlaglöcher mitten auf der Piste. Wir sind keine Weicheier, aber das war eindeutig über den Punkt. Und ein Beleg für die Fahrlässigkeit vieler Organisatoren, die schwere Stürze billigend in Kauf nehmen.

„So weit ist aus meiner Generation keiner gekommen“

Erwischt hat es auch Emanuel Buchmann, der bei der Tour aufs Podium will. Wie erleben Sie die neue deutsche Radsport-Generation um Buchmann, Schachmann und Ackermann?

Auch meine Generation hatte ihre ganz großen Momente – Marcel Kittel bei seinen Tour-Etappensiegen, John Degenkolb bei seinen Klassiker-Erfolgen, ich bei meinen WM-Titeln im Zeitfahren. Doch die Qualität der jungen Garde ist noch etwas höher.

Woran machen Sie das fest?

Letztlich kommt in der öffentlichen Wahrnehmung alles auf die Gesamtwertung der Tour an, doch da haben wir nichts gerissen. Jeder Radsport-Fan in Deutschland wartet auf einen modernen Jan Ullrich – und Emanuel Buchmann ist auf einem guten Weg dorthin. 2019 hat er als Vierter knapp das Podium in Paris verpasst, so weit ist aus meiner Generation niemand gekommen.

Dafür gab es noch eine andere wichtige Aufgabe: sich gegen Doping zu positionieren.

Das haben wir getan, in schwierigen Zeiten für den Radsport. Allerdings sind wir ein Stück weit in diese Rolle gedrängt worden.

Wie meinen Sie das?

Ich wäre auch lieber unbeschwert Rad gefahren, ohne in jeder zweiten Frage mit dem Thema Doping konfrontiert zu werden. Wir haben uns dem Problem gestellt, mit Haltung und Worten. Und trotzdem kann die jüngere Generation froh sein, dass sich der Radsport nun auf einem guten Weg befindet.

Ist er das?

Aus meiner Sicht auf jeden Fall, selbst wenn sich Doping auch durch noch so viele Tests nie wird ausmerzen lassen. Die Jungs, die auf uns folgen, sollten die momentane Lage unbeschwert genießen. Und zugleich im Hinterkopf behalten, dass man für seinen Sport und seine Werte einstehen muss, sollten die Zeiten wieder schwieriger werden.