Hunderttausende Ratten sind in den Stuttgarter Abwasserschächten daheim. Dort finden sie in diesen Tagen nicht nur gutes Fressen, sondern auch vergiftete Getreideköder: ein Ausflug in die Unterwelt.

Reportage: Robin Szuttor (szu)

Stuttgart - Gleich beim Abstieg in die Unterwelt empfängt einen der Geruch der Königstraße. Sie duftet hier nicht nach Brezeln, Crêpes und Cappuccino, sondern stinkt nach Kloake. Was die Prachtpromenade ausscheidet, fließt zehn Meter unter dem Schlossgarten in einem rauschenden Bach, nur nicht so romantisch wie im Volkslied. Es wimmelt von Darmbakterien, Besucher müssen Handschuhe und Ganzkörperschutzanzug tragen. Erster Rat: „Nicht ins Gesicht fassen.“ Im trüben Wasser schwimmen ominöse kleine Brocken vorbei, die großen Haufen gleiten diskret über die Bachsohle. Eine braune Schlacke klebt an den Wänden. Man geht gebückt im Rohr. Die Stuttgarter Kanalisation lehrt einen Demut.

 

Für die Ratten ist es hier angenehm, vor allem im Winter. Immer wohlig warm, nie unter 15 Grad. Dann das ruhige Ambiente: in stillgelegten Rohren kann man sich eine kleine Stadtwohnung einrichten, hier will keiner was von einem. Die gute Versorgung: wenn man am Abfluss einer Gaststättenmeile sitzt, laufen erstklassige Nahrungsreste, die oben in den Klos runtergespült werden, unten am Schnäuzchen vorbei wie Sushi auf dem Fließband. Dass auch viele ungenießbare Teile mitschwimmen, ist egal. Da sind die Tiere nicht so etepetete.

1800 Kilometer Rohre umfasst das Stuttgarter Kanalnetz. Als schnurgerade Pipeline reichten sie bis Madrid. Von den 60 000 Schächten sind nur die wenigsten begehbar. Doch es gibt auch unterirdische Hallen, so breit und hoch, dass Lastwagen im Gegenverkehr durchrauschen könnten. Am Steinufer eines dieser immensen Tonnengewölbe glaubt man, im Halbdunkel eine Champignonkultur zu entdecken. Es sind aber gestrandete Tampons. Der nächste Starkregen spült sie wieder weiter. Dann schwillt der Bach zu einen zweieinhalb Meter tiefen, reißenden Fluss an. Wer da reinfällt, ist verloren und landet unweigerlich in den Rechen des Klärwerks.

Die Verbannung aus der Arche Noah

Einer hat irgendwann Hammer und Sichel auf einen Kanalziegel gekritzelt. Ein müder Versuch, hier unten die Welt von oben nachzuahmen. Ist die Taschenlampe aus, herrscht totale Schwärze. Man hört die Autos über den Schachtdeckel der Bundesstraße rumpeln. Der Rettungsschacht liegt hinter einer Stahltür, dick und luftdicht wie in einem U-Boot. Sollten Kohlenmonoxid oder Schwefelwasserstoff austreten, ist das tödlich für den Menschen. Ratten überleben alles. Sogar die Verbannung aus der Arche Noah. Günter Grass hat sie sich für seinen Roman „Die Rättin“ ausgedacht:

Dem Menschen eingeborener Ekel vor unserer Art hinderte Noah, nach seines strengen Gottes Wort zu handeln. Er strich uns aus seiner Liste, die alles nannte, was Atem hat. Küchenschaben und Kreuzspinnen, den sich krümmenden Wurm, die Laus sogar und die warzige Kröte, schillernde Schmeißfliegen nahm er, ein Paar, an Bord, uns aber nicht.

Doch als die Arche breit und platt auf dem Ararat Grund gefunden hatte, war das wüste Gelände ringsum schon eingenommen von uns; denn in unterirdischen Gängen, die wir mit Alttieren gepfropft und in Nistkammern zu rettenden Luftblasen gemacht hatten, waren wir, das zählebige Rattengeschlecht, der Sintflut entkommen. Wir, langschwänzig! Wir, mit dem ahnenden Witterhaar! Wir, mit dem nachwachsenden Zahn! Wir, des Menschen enggefügte Fußnoten, sein auswuchernder Kommentar. Wir, unverwüstlich.

An Kot und Schwanzschleifspuren in den Schächten sieht man, wo Ratten waren. Neulich blinzelte ihn eine aus einem toten Einlauf heraus an, sagt der Mann der Stadtentwässerung. 40-Zentimeter-Biester habe er auch schon gesehen. Sogar einen Angriff gab es mal. Gummistiefel beißt so ein Tier locker durch. Aber nur, wenn es sich in die Enge getrieben fühlt. Ist die Not groß genug, können Ratten auch bis rauf in die Kloschüssel klettern oder Hartgummi, Aluminium, Weißblech durchnagen.

Der Kanal als U-Bahn

Aber sie haben ja keine Not. Im Sommer nutzen sie die Kanalisation als U-Bahn-Netz. Die meisten wohnen am Neckarufer in schmucken Eigentumslöchern, pendeln zur Arbeit in die Stadt. Viele sind im Schlosspark beschäftigt, huschen dort heimlich zwischen den Abfallkörben hin und her: Welch Leckerbissen da immer drin sind! Wird es draußen ungemütlich, bleiben sie lieber in ihrer Unterwelt, da schmeckt es auch. Neue Gastronomietipps verbreiten sich rasch, Ratten tratschen gern und sind nicht egoistisch. Es müssen keine Sternerestaurants sein, auch die Tellerreste gutbürgerlicher Privatküchen von Dürrlewang bis Neugereut sind ein gefundenes Fressen, wenn sie im Abwasserrohr geschwommen kommen. Wie viele Ratten in Stuttgart leben, weiß keiner. Aber dass es unten so viele Nager gibt, wie oben Menschen hält kein Experte für abwegig. Die zwei erfolgreichsten Säuger der Evolution teilen sich die Welt. Die einen zeigen sich gern. Die anderen müssen in der Deckung leben. Aber das ist eine lange Geschichte:

Vor 3500 Jahren, vielleicht im Gewürzsack eines bronzezeitlichen Händlers versteckt, begann die Hausratte (Rattus rattus) von ihrer Heimat Indien aus, die Welt zu erobern. Zum ersten großen Kräftemessen mit den Menschen kam es, als sie den Rattenfloh von der Krim importierte und in der Folge die Pestilenz über ganz Europa brachte. Der Schwarze Tod raffte ein Drittel der Bevölkerung dahin. Im 18. Jahrhundert hatte man die Pest im Griff, aber die Ratte nicht. Jetzt trugen Handelsflotten einen neuen Nager in den Schiffsbäuchen. Über die dicken Taue war Rattus norvegicus, die Wanderratte, an Bord geklettert.

Sogar in den Iglus der Eskimos soll es sie geben. Mit den Verbannten gelang es den Ratten, Sibirien zu besiedeln. Polarforschern gesellig, haben Schiffsratten die Arktis und die Antarktis entdeckt. Keine Einöde war ihnen unwirtlich genug. Hinter Karawanen zogen sie durch die Wüste Gobi. Frommen Pilgern im Gefolge waren sie nach Mekka und Jerusalem unterwegs. Mit den wandernden Völkern des Menschengeschlechts sah man dicht bei dicht Ratten wandern. Sie sind mit den Goten ans Schwarze Meer, mit Alexander gen Indien, mit Hannibal über die Alpen, anhänglich den Wandalen nach Rom gezogen. Hinter Napoleons Heerhaufen nach Moskau hin und zurück. Auch mit Mose und dem Volk Israel liefen trockenen Fußes Ratten durchs Rote Meer, um in der Wüste Zin vom himmlischen Manna zu kosten; es gab von Anbeginn Abfall genug.

Heute ist die Hausratte vom Aussterben bedroht, beiseitegedrückt von der Wanderratte. Rattus norvegigus stammt aus den Sümpfen Chinas. In der neuen europäischen Heimat bewohnte sie nicht wie die Hausratte Dachböden und Getreidespeicher. Sie mochte Kloaken, Keller, Kanäle, wo sie dem Menschen nicht in die Quere kam – ein überlebenswichtiger Vorteil.

Große Riecher

Sie sind große Riecher: Ratten orten Nahrung über viele Kilometer hinweg. Ein Urinspritzer am Wegesrand verrät dem Männchen alles, was es wissen muss: Ein Weibchen? Jung? Paarungsbereit oder gestresst? Oder beides? Arg hitzige Weibchen zeigen dies durch Ohrenwackeln. Die Männchen singen nach erfolgreicher Vereinigung. Wenn alles passt, kann aus einem Pärchen innerhalb eines Jahres ein Stamm mit ein paar hundert Tieren erwachsen.

Ratten sind sehr sozial, verfallen bei Einsamkeit in Angst und Depression. Sie helfen einander: Je mehr Zuneigung und Fürsorge sie erfahren, desto mehr geben sie zurück. Und sie können lachen: Forscher haben Ratten am weichen Bauch gekitzelt und ein freudiges 50-Kilohertz-Piepsen zurückbekommen. Bald wollten die Tiere immer wieder aufs Neue gekitzelt werden. Afrikanische Hamsterraten, groß wie Waschbären, hat man antrainiert, mit ihrer feinen Nase Tuberkulose-Infektionen zu diagnostizieren, schneller und genauer als jedes Laborgerät. In Angola oder Mosambik erschnüffeln sie Landminen.

Sie können sogar einschätzen, wie zuverlässig ihr eigenes Urteil ist: Bei einem Versuch wurde den Tieren ein Cocktail aus Ziegensäure und dem süßlichen 1-Hexanol aufgetischt. Sie sollten schnuppern und per Knopfdruck anzeigen, welche Substanz überwiegt. Außerdem schulte man sie darin, ihre Entscheidung noch mal zu überdenken. Das Ergebnis: je kniffliger die Gemengelage, also bei nahezu gleichen Anteilen beider Duftstoffe, desto häufiger zauderten sie und revidierten ihre Meinung. Bei deutlichen Mischungsverhältnissen dgegen glaubten sie fest an sich, zogen ihr Ding ohne Rückzieher durch und ließen es bei der ersten (und richtigen) Bewertung.

„Nein“, sagt die Rättin, von der mir träumt, „solche Vertällens haben wir satt. Was schwarz auf weiß alles geschrieben steht. Klugscheißerei und Kirchenlatein. Unsereins ist fett davon, hat sich durchgefressen bis zur Gelehrsamkeit. Diese stockfleckigen Pergamente, gelederten Folianten, mit Zetteln gespickten Gesamtausgaben und oberschlauen Enzyklopädien. Von d’Alambert bis Diderot, es ist uns alles bekannt. Noch früher, zu Augustinus’ Zeiten schon, waren wir überfressen. Von Sankt Gallen bis Uppsala: keines Klosters Bibliothek, die uns nicht wissender machte. Wir sind belesen, uns haben in Hungerzeiten Zitate gemästet, wir kennen schöne und sachliche Literatur, uns sättigten Vorsokratiker und Sophisten. Scholastiker satt. Ihre Schachtelsätze, die wir kürzten und kürzten, waren uns allzeit bekömmlich. Fußnoten, welch köstliches Zubrot.“

Im Mittelalter galten Ratten als satanisches Schadgetier, das mit Hexen und Zwergen im Bunde stand. Man jagte sie mit Hunden und Iltissen, ertränkte sie in Fallen. Manche wurden exorziert: Nicht einmal Katzen wagten sich an diese mit Teufelskunst aus Dreck erzeugten Dämonen. In England nutzte man eingefangene Ratten für Spaß, Sport und Spiel: Sie mussten in Schaukämpfen gegen Terrier antreten. Der Rekord eines Terriers soll bei 25 totgebissenen Ratten in einer Minute liegen.

Der Kampf mit Giftköder

Heute bekämpft man die Tiere aus Sorge, dass sie Tollwut, Salmonellen, Leptospiren, Toxoplasmen übertragen. Zurzeit lässt die Stadt Stuttgart Köder in 30 000 Schächten aushängen: Je zwei 20-Gramm-Quader aus gepresstem Getreide mit dem Wirkstoff Brodifacoum versehen, wasserfest, blass rosafarben. Nach zwei Wochen wird der Wegfraß kontrolliert und jeder Schacht bei Bedarf nachbelegt. Man bietet immer reichlich Köder an, denn fressen die Ratten zu wenig davon, überleben sie womöglich und werden immun gegen das Zeug. Zwei bis vier Tage nach der Mahlzeit – und somit außerhalb des rättischen Vorkosterradars – fangen die Kapillargefäße der Ratte an aufzuplatzen. Der Gerinnungshemmer im rosa Riegel lässt sie dann innerlich verbluten, laut dem Beipackzettel kommt der Tod schmerzfrei. In diesen Tagen werden Tausende Rattenkadaver in den Sieben der Kläranlagen angespült. 250 000 Euro zahlt die Stadt für die Aktion.

Den Stuttgarter Kanalratten ergeht es besser als vielen der knapp 400 000 Ratten, die in Deutschland jährlich für Tierversuche verwendet werden: Man fügt ihnen Verbrennungen zu, schneidet sie auf, verabreicht ihnen Elektroschocks, isoliert sie von Artgenossen, schädigt Gehirnbereiche durch Kälte, durchtrennt Nerven im Innenohr, schraubt Apparaturen in ihren Schädel, flößt Alkohol in den Magen ein. Alles zum Wohle und im Dienste des Menschen. Aber noch ist nicht gesagt, wer wen überdauert. Bei Günter Grass hat die Ratte am Ende den längeren Atem:

Die Rattenstimme hielt den Oberton: „Weg sind sie, weg! Gut so. Sie fehlen nicht. Diese Humanen haben gedacht, es werde die Sonne zögern, auf- und unterzugehen nach ihrem Verdampfen, Saftlassen und Verglühen, nach dem Krepieren einer mißratenen Sorte, nach dem Aus für die Gattung Mensch. Das alles hat nicht den Mond, hat kein Gestirn gejuckt. Nicht einmal Ebbe und Flut wollten den Atem anhalten. Stille seitdem. Mit ihnen ist der Lärm vergangen. Und die Zeit geht, als sei sie nie gezählt und in Kalender gesperrt worden.“ Und wieder ihr Rattenwelsch: „ Futsch midde Minscher. Stubbich Geschemmele nuch!“ Was heißen sollte: Nur noch Staubregen und gut, daß sie keinen Schatten mehr werfen.