Es scheint, als sei der Umgang mit dem Reich der Mitte eine Frage nach Gewissen oder Geld. Doch in Wirklichkeit ist es mehr als das, kommentiert Christian Gottschalk.

Politik/ Baden-Württemberg: Christian Gottschalk (cgo)

Stuttgart - Carrie Lam hat eine sehr exklusive Sicht auf die Dinge. Das neue Sicherheitsgesetz für Hongkong nennt sie „nachsichtig, nicht streng“. Carrie Lam ist die Regierungschefin der ehemaligen Kronkolonie, den Posten hat sie inne, weil Peking das so wünscht. Und während Carrie Lam ihre Sicht der Dinge zum Besten gibt, werden die Lehrer in Hongkong angewiesen, schon einmal die Schulbücher daraufhin zu überprüfen, ob sie dem neuen Sicherheitsgesetz standhalten. Die Paragrafen formulieren bewusst schwammig, was subversiv oder sezessionistisch ist – sodass lieber zu viel als zu wenig an missliebigem Material ausgemistet werden wird. Sicher ist sicher.

 

Hongkong bringt das Fass zum Überlaufen

Es hat nicht erst diesen Umgang mit Büchern gebraucht, dass sich das China-Bild hierzulande eintrübt. Mahnende Stimmen, die sich vor Pekings zunehmender Macht fürchten, nehmen zu. Chinas Umgang mit Uiguren, von denen mehr als eine Millionen in Lagern gefangen werden, die ständigen Repressionen gegen politisch Andersdenkende und der sehr offensive Umgang mit Gebieten im südchinesischen Meer, die Peking gegen den Widerspruch anderer Staaten für sich reklamiert, haben schon zu einem vernehmlichen Brummeln geführt. Das Vorgehen in Hongkong hat für viele das Fass zum Überlaufen gebracht. Der Ruf nach harten Maßnahmen und Sanktionen ist schnell erhoben. Umsetzbar ist er nur unter größten eigenen Schmerzen.

Der Umgang mit China gehört zu den schwierigsten Fragen der deutschen und europäischen Außenpolitik in diesem Jahrzehnt. Kritik oder Kommerz, das scheinen hier die Alternativen zu sein. Glaubwürdig bleibt nur, wer auch dann für seine Überzeugungen eintritt, wenn es weh tut. Das ist die eine Seite, die mit großer moralischer Berechtigung gefordert werden kann. Doch es gibt auch die andere Seite. BMW etwa hat gerade seine Zahlen präsentiert. Das Corona-Leid ist groß beim deutschen Autobauer, nur China ist ein Lichtblick, da Lagen die Absatzzahlen aktuell über Vorjahresniveau. Bei den Mitbewerbern wird es ähnlich sein. Das mit einer Sanktionsdebatte aufs Spiel zu setzen kann gerade jetzt, wo durch die Pandemie Tausende von Jobs gefährdet sind, eine schmerzhafte Entscheidung sein.

China ist uns näher als die USA

Doch es ist ja nicht nur die Entscheidung zwischen Geld oder Gewissen. China ist in vielen Bereichen sehr weit von unseren Wertvorstellungen entfernt – andernorts aber auch nicht. Weitgehend unbemerkt ist Peking, zweitgrößter Rüstungslieferant der Welt, am Dienstag dem UN-Vertrag über Waffenhandel beigetreten. Der größte Waffenhändler USA ist da nicht dabei. Am Pariser Klimaabkommen hält Peking fest – Washington nicht. Gleiches gilt für die Weltgesundheitsorganisation. Wer die Welt gerne in Schwarz und Weiß einteilt, der hat mit China Probleme. Das Reich der Mitte ist grau in allen Schattierungen, von sehr dunkel bis hell.

Einen entsprechenden Spagat wird es daher auch in den Reaktionen brauchen. Gesamteuropäisch sollten die sein, das wäre wünschenswert. Doch das ist ebenso wahrscheinlich wie die sofortige Ausrufung der Demokratie in Peking. Auch wenn die EU in ihrem strategischen Ausblick China nicht mehr als Entwicklungsland, sondern als globalen Schlüsselfaktor bewertet – wenn es um konkrete, schnelle Maßnahmen geht, wird es zu keiner Einigkeit kommen. Deutschland muss sich von Fall zu Fall Verbündete suchen, und darf nicht mit Maßnahmen drohen, die es nicht einhalten kann. Und so sehr Berlin klare Worte finden muss, so sehr ist auch die leise Diplomatie gefragt. In der Vergangenheit hat die gerade mit China beachtliche Erfolge gefeiert. Manch ein Dissident verdankt der Kanzlerin seine Freiheit. Ob das auch noch für die Gegenwart gilt, muss kritisch beobachtet werden.