Ein ehemaliger Chef des Neonazi-Netzwerks Blood & Honor soll jahrelang für den Verfassungsschutz gearbeitet haben. Der Fall interessiert auch den NSU-Untersuchungsausschuss im Landtag.

Stuttgart - Wer sich auf die Suche nach einem der ehemals führenden Neonazis Deutschlands begibt, muss in eine kleine Gemeinde am Neckar im Landkreis Ludwigsburg fahren. Am Fuße der steilen Weinberge liegen gepflegte Einfamilienhäuser. In den Vorgärten plätschern Teiche, Rasenmäheroboter drehen ihre Runden. Doch Stephan L. öffnet seit Wochen nicht die Tür, wenn man klingelt. Auch in seiner Stammkneipe im Dorf hat man ihn länger nicht gesehen. In den Neunzigerjahren nannten den heute 46-Jährigen alle nur „Pinocchio“. Ein Spitzname, der seinen einstigen Kameraden in diesen Tagen bitter aufstoßen dürfte. Denn „Pin“ war damals jemand, zu dem man aufschaute. Jetzt wurde bekannt, dass er wahrscheinlich jahrelang für den Verfassungsschutz spitzelte.

 

Ab 1994 leitete Stephan L. die „Division Deutschland“ von Blood & Honour (B&H), einen Ableger des wohl bedeutendsten internationalen Neonazi-Netzwerks. Als Chef der starken Berliner Sektion war er dafür prädestiniert. Ob für Auslandskontakte, die Verteilung von Musik oder die Produktion der eigenen Szene-Heftchen: L. war der Mann in der großen Stadt, der die Dinge anpackte. Statements signierte er stolz mit „88“, dem Code für „Heil Hitler“.

„In seiner Funktion als Leiter der Division Deutschland bestimmte L. alle wesentlichen Aktivitäten von B&H in Deutschland“, schrieb der Verfassungsschutz in einem internen Behördenzeugnis über „Pinocchio“. Als der Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) die rechtsextreme Organisation und ihre Jugendgruppe „White Youth“ im September 2000 verbot, standen Kriminalbeamte auch beim Divisionschef in Berlin-Lichtenberg vor der Tür. „Die Blood & Honour Division Deutschland und die White Youth richten sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung und den Gedanken der Völkerverständigung“, war in der Verbotsverfügung zu lesen. Beide Gruppen wurden aufgelöst.

Beim Verfassungsschutz wird er als V-Mann „Nias“ geführt

Doch mit dem Verbot war die Geschichte von Blood & Honour nicht vorbei. Weder für Stephan L., noch für die Behörden. Wie ARD-Magazine und der „Tagesspiegel“ als Erstes berichteten, wurde L. beim Bundesamt für Verfassungsschutz als V-Mann „Nias“ geführt. Offensichtlich informierte er die Staatsschützer über ein rechtsextremes Skinhead-Milieu, das sich von Verboten nicht aufhalten lassen wollte. Dabei dürfte es auch um Kameraden aus Baden-Württemberg gegangen sein. Denn nach Informationen dieser Zeitung lebte Stephan L. bereits ab 2001 im Südwesten und pflegte dort weiterhin Kontakte zum harten Kern der rechten Szene.

In einem Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Karlsruhe wegen Verstoßes gegen das Verbot von Blood & Honour geriet L. 2003 laut Akten vorübergehend ins Visier der Ermittler. Am 10. September 2005 reiste er mit dem hessischen Neonazi Marcel P. ins belgische Flandern, um dort an einem Rechtsrock-Konzert teilzunehmen. Beide trugen T-Shirts mit dem Logo von B&H Deutschland. An seinem neuen Wohnort traf L. außerdem auf einen alten Bekannten: den deutschkroatischen Neonazi Markus Frntic. Der war in den Neunzigerjahren Chef der württembergischen B&H-Sektion und Mitglied des rassistischen Ku-Klux-Klan. Später gründete der bullige Glatzkopf eine militante Skinheadgruppe mit dem Namen „Furchtlos & Treu“. Private Facebook-Nachrichten belegen die freundschaftliche Beziehung zwischen L. und Frntic. Laut Unterlagen wohnte L. zeitweise sogar im Elternhaus des schwäbischen Rechtsextremisten.

Überraschung im NSU-Untersuchungsausschuss

Auch mit dem badischen Neonazi Achim P., der mittlerweile die Kutte des Rockerclubs „Gremium MC“ trägt, pflegte L. zumindest bis vor wenigen Jahren Kontakt. Diese Verbindungen interessieren auch den NSU-Untersuchungsausschuss im Stuttgarter Landtag. Denn aus den Reihen von Blood & Honour stammen zahlreiche Unterstützer und Weggefährten der rechtsterroristischen NSU-Gruppe, die laut Bundesanwaltschaft auch für den Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter im April 2007 in Heilbronn verantwortlich ist. „Wir haben ihn auf dem Schirm“, sagte der Ausschuss-Vorsitzende Wolfgang Drexler (SPD) dieser Zeitung über L. Gleichzeitig sei man überrascht über dessen unlängst aufgedeckte Spitzeltätigkeit. „Wir haben noch keine Akten dazu, werden aber prüfen, ob es eine Verbindung zum NSU gibt“, erklärte Drexler weiter.

Ab Herbst will sich der Ausschuss intensiv den Netzwerken von Blood & Honour widmen. Inwieweit der Fall „Nias“ dabei eine Rolle spielen wird, ist aber noch unklar. Von seiner politischen Vergangenheit scheint sich Stephan L. mittlerweile endgültig lösen zu wollen. Bis vor Kurzem prangten die Buchstaben B&H noch an seinem Hals. Jetzt hat er sich die Tätowierung übermalen lassen.