Er kämpft gegen Abtreibung, Homosexualität und hat noch einen Missbrauchsskandal am Hals. Ist so ein Politiker wählbar? In den USA schon – genauer gesagt im Süden. Eine Reportage aus dem ultrarechten Herzen Amerikas.

Alabama - Ohne Navigationsgerät würde man die Oak Hollow Farm im Dunkeln wohl kaum finden. Schnurgerade führt der Highway 98 im Südzipfel Alabamas durch das Niemandsland, bis plötzlich ein unscheinbares Schild auftaucht. Männer mit Taschenlampen dirigieren die Besucher zum Parkplatz auf einer Wiese. Der Geruch von frischem Gras liegt in der schwül-warmen Dezemberluft, aus der Scheune dringt Dixie-Musik. Man könnte sich auf einer Südstaaten-Hochzeit wähnen – würde nicht ein halbes Dutzend TV-Übertragungswagen mit Satellitenschüsseln darauf hindeuten, dass der kleine Küstenort Fairhope heute im Zentrum des medialen Interesses steht.

 

Ein beispielloser Walkampf

Brock Wells lässt sich von dem Rummel nicht stören. Gut gelaunt verfolgt der 74-Jährige mit dem schwarzen Cowboyhut an der Seite seiner Frau Miriam das Geschehen in der Scheune. Die Holzwand hinter der Bühne ist von einer riesigen US-Flagge bedeckt. „Ich bin hier, um meine Unterstützung zu zeigen“, sagt er: „Ich will nicht, dass man uns in Washington vorschreibt, wen wir wählen sollen.“ Auf seiner Brust prangt ein großer Anstecker: „Judge Roy Moore“ steht darauf, der Name des pensionierten Skandal-Richters, der am Dienstag zum Senator von Alabama gewählt werden möchte. Während die Band die Stimmung anheizt, fiebern 300 Anhänger dem Auftritt des republikanischen Outlaws entgegen.

Im Bundesstaat Alabama, der gewöhnlich höchstens wegen seines Football-Teams Crimson Tides überregionale Beachtung findet, tobt ein Wahlkampf, wie er selbst in Donald Trumps Amerika beispiellos ist: Ein ultrarechter evangelikaler Fundamentalist, der Moslems aus dem Parlament ausschließen will, die Sklaverei verharmlost, Homosexualität bestrafen will und sich selbst an minderjährigen Mädchen vergangen haben soll, kämpft gegen den erklärten Willen der eigenen nationalen Parteiführung um einen republikanischen Sitz im US-Senat – und hat gute Chancen zu gewinnen. „Ajatollah von Alabama“ schimpfen ihn seine Gegner. Seine Anhänger halten in der Scheune Pappschilder mit der Aufschrift „Danke, Herr Jesus, für Senator Moore!“ hoch.

Missbrauch? Da ist doch nichts passiert. . .

Ganz so weit würde Brock Wells wohl nicht gehen. Seine Entscheidung sei „strategisch“ motiviert, sagt der ehemalige Soldat, der auch in Deutschland stationiert war. Moore stehe für weniger Einwanderung, strenge Gesetze und niedrigere Steuern. Er wolle Abtreibung unter Strafe stellen: „Das sehe ich genauso.“ Und die Missbrauchsvorwürfe? „Es gibt keine Beweise“, wendet Wells ein: „Und einmal ehrlich: Warum kommen die Frauen damit nach fast 40 Jahren?“ Dass der Politiker einst jungen Mädchen nachgestellt haben könnte, will der Ex-Offizier nicht ausschließen. Aber mehr sei da bestimmt nicht passiert. Die Menschen aus Etowah County seien halt ein bisschen speziell, wiegelt er ab.

Rund 320 Meilen trennen Fairhope an der Golfküste von dem hügeligen Landstrich im Nordosten Alabamas, aus dem Moore stammt. Etowah County ist tiefstes Trump-Land. Hier holte der Präsident 73,3 Prozent der Stimmen. Die Fahrt ins Zentrum des Verwaltungssitzes Gadsden führt an der Bethel Church vorbei. „Legal or not – Sin is Sin“ (Legal oder nicht – Sünde bleibt Sünde) protestiert dort ein Schild gegen Abtreibung. Nach der Tabernacle-Church passiert man die True Believers-Kirche, das Wills Creek Baptist-Gebetshaus und den Backsteinbau der Twelve Street Baptist Church. Irgendwann hört man auf, die Gotteshäuser zu zählen. Etwas Anderes gibt es aber nicht zu sehen. In dieser Umgebung wurde Moore vor 70 Jahren geboren. Und hier begann er seine Laufbahn im Büro des Bezirksstaatsanwalts.

In den Malls seiner Heimatstadt wurde er zudringlich

In der Freizeit trieb sich der damals 30-Jährige gerne in der Gadsden Mall herum – einem Einkaufszentrum mit Allerwelts-Läden, kugelrunden Kaugummiautomaten, müffelnden Imbissbuden und dem einzigen Kino am Rande der Stadt. Mehrere Meter lang reihen sich auch heute noch Bibeln und christliche Erbauungswerke in den Regalen der Buchhandlung Books-A-Million aneinander. Der stets korrekt gekleidete Jurist soll freilich mehr an jungen Mädchen interessiert gewesen sein – und zwar so aufdringlich, dass er laut Aussage mehrerer Zeitzeugen Ende der siebziger Jahre von der Mall ein Hausverbot erhielt.

Doch Moores Vorliebe für Minderjährige beschränkte sich möglicherweise nicht aufs Nachstellen. Neun Frauen haben in den vergangenen Wochen öffentlich gemacht, dass der Jurist sie als Jugendliche nötigte oder missbrauchte. Mit einer 14-Jährigen soll er sich heimlich verabredet und ihr beim zweiten Treffen an die Brüste gefasst haben. Eine 16-Jährigen lockte er angeblich unter einem Vorwand in sein Auto, griff ihr gewaltsam an die Genitalien und presste ihren Kopf in seinen Schoß. „Du bist ein Kind. Ich bin der Bezirksstaatsanwalt. Niemand wird Dir glauben“, soll er dann gesagt haben.

Das Böse – das sind die anderen

Der Kandidat streitet alles ab. Als er an diesem Abend die Bühne der Oak-Hollow-Scheune betritt, streift er das Thema nur am Rande. Die letzten Wochen seien ungewöhnlich gewesen, sagt Moore: „Aber wenn Gott Dich irgendwo hinstellt, musst Du standhaft sein.“ Er will die Missbrauchsdebatte totschweigen. Schließlich hat er eine Mission: „Wir müssen das Böse bekämpfen!“, ruft er dem ausschließlich weißen Publikum zu, das kräftig Beifall klatscht. Das Böse, das sind für ihn kriminelle Einwanderer, Obamacare, Transgender-Toiletten und die Tötung ungeborener Kinder.

Der 1,70 Meter kleine Mann im dunklen Anzug ist kein begnadeter Redner. Immer wieder stockt er und sortiert seine Zettel neu. Die Sätze sind kurz und scharf, und oft reckt Moore den rechten Zeigefinger in die Höhe. Er ist der Biedermann, der ausspricht, was hier im tiefen Süden viele denken: „Wenn man heutzutage gegen Abtreibung, Homosexualität und Sodomie aufsteht, gilt das schon als Diskriminierung“, beklagt er unter Beifall. Er selbst sieht sich als Opfer einer geradezu teuflischen Hexenjagd: „Wir befinden uns mitten in einem Glaubenskrieg mit denen, die unsere Botschaft unterdrücken und christliche Konservative wie mich zum Schweigen bringen wollen.“

Er hat alle Klagen gegen ihn überstanden

Religiöses Eiferertum, gezielter Tabubruch und Selbststilisierung als Opfer – diese Trias hat Moore im erzkonservativen Alabama, wo der Ku-Klux-Klan bis heute sein Unwesen treibt, zu großer Popularität verholfen. Wenige Monate, nachdem er im Januar 2001 zum Vorsitzenden Richter des Verfassungsgerichts von Alabama berufen worden war, ließ er in dem Gebäude in der Landeshauptstadt Montgomery eine 2,4 Tonnen schwere Granitstatue der Zehn Gebote aufstellen, um „das moralische Fundament unseres Gesetzes wiederherzustellen“, wie er erklärte. Das Monument ist inzwischen verschwunden, aber die Erinnerung daran bleibt gegenwärtig. „Hier etwa muss es gewesen sein“, so Fremdenführer Chuck Docent bei einem Rundgang durch das Justizgebäude. „Keine Ahnung, wie der das dahinbekommen hat.“

Eine Marmortreppe führt ins zweite Obergeschoss zu Moores einstiger Wirkungsstätte: Ein säulenverzierter kreisrunder Saal mit schweren Ledersesseln. Vom höchsten Richterstuhl des Landes konnte Moore durch die gläserne Öffnung in der Mitte des Kuppeldachs direkt den Himmel sehen. Doch irdische Bürgerrechtler machten ihm das Leben schwer und klagten erfolgreich gegen das Bibel-Denkmal. Moore weigerte sich, den Koloss zu entfernen und organisierte stattdessen eine Unterstützerdemo. Kurz darauf wurde er abgesetzt.

Sogar die eigene Partei distanziert sich

Damit war der Mythos vom unbeugsamen Kämpfer im Dienste des Herrn geboren. Tatsächlich schaffte es der Republikaner 2012 noch einmal, zum Obersten Richter gewählt zu werden. Dieses Mal wies er seine Richter an, trotz gegenteiliger Rechtslage keine Homo-Ehen anzuerkennen. Er wurde er erneut verklagt und nach einem Rechtsstreit endgültig aus dem Amt geworfen. In der Ahnengalerie des Verfassungsgerichts sucht man sein Porträt vergeblich. „Vielleicht haben sie es abgehängt“, vermutet Fremdenführer Docent einsilbig. Das Thema ist ihm spürbar unangenehm. Im liberalen Montgomery wird Moore nicht vermisst.

Dass sich die Republikaner im Washingtoner Senat nach dem Aufkommen der Missbrauchsvorwürfe von ihm distanzierten und ihn ausdrücklich zum Rückzug aufforderten, hat seinen Nimbus nur gestärkt. Nun gibt er wie Trump den Kämpfer gegen das Establishment. „Sie wollen nicht Roy Moore mundtot machen, sondern Euch“, ruft Trumps einstiger Chefideologe Stephen Bannon in Fairhope. In Alabama, wo Trump bei der Präsidentschaftswahl fast doppelt so viel Stimmen einsammelte wie Hillary Clinton, stehe sehr viel auf dem Spiel, mahnt Bannon. Linke Kräfte und die Besitzstandswahrer der republikanischen Partei wollten die Trump-Agenda ausbremsen: „Es geht um die Frage: Holen wir uns unser Land zurück?“

Der Gegenkandidat scheint schancenlos

So fühlt sich Moore richtig porträtiert – als unerschrockener Vorkämpfer des wahren Trumpismus. Längst vergessen ist, dass der Präsident anfangs auf einen anderen Bewerber setzte. Nach einer kurzen Schamfrist unterstützt Trump den Kandidaten inzwischen mit vollen Kräften, obwohl seine Partei weiter Distanz hält. „Die wollen mich nicht im Senat, weil ich ein kritischer Geist bin“, ruft Moore seinen Zuhörern in Fairhope zu: „Die haben Angst, dass ich die Werte Alabamas nach Washington bringe.“ Da klatscht auch Brock Wells kräftig. „Wir sind keine fanatischen Moore-Fans“, versichert der Ex-Soldat. Trotzdem hat er keine Sekunde erwogen, den demokratischen Gegenkandidaten Doug Jones zu wählen. Der sei ihm wie den meisten hier einfach zu links. „Roy wird gewinnen“, glaubt Wells. Tatsächlich liegt Jones nach einem kurzzeitigen Schub durch die Missbrauchs-Affäre inzwischen in den Umfragen wieder auf dem zweiten Platz.

Noch ist das Rennen nicht entschieden. Doch Moore, der auf dem Pferd zur Stimmabgabe reiten will, kündigt bereits an: den Wahltag werde „die Welt nicht vergessen“. Außerhalb von Alabama fürchten viele, dass er recht behalten könnte.