Die Bevölkerung in dem südamerikanischen Land hat ein neues Grundgesetz mit großer, überraschend deutlicher Mehrheit abgelehnt. Damit bleibt die Verfassung von 1980 aus Zeiten der Pinochet-Diktatur in Kraft – ein schwerer Schlag für den jungen Linkspräsidenten Gabriel Boric.

Korrespondenten: Klaus Ehringfeld (ehr)

Es dauerte am Sonntag nur wenige Minuten, bis sich eine Tendenz abzeichnete, die schon kurz danach zur Gewissheit wurde. Kaum waren die Wahllokale um 18 Uhr geschlossen, da zeigten die ersten Wahlkreisergebnisse: Die chilenische Bevölkerung lehnt mit großer Mehrheit die neue Verfassung ab, die 154 vom Volk gewählte Vertreter während eines guten Jahres ausgearbeitet hatten. 62 Prozent der Bevölkerung sagte „Nein“ zu dem Entwurf.

 

Für den jungen Linkspräsidenten Gabriel Boric, der gerade ein halbes Jahr regiert, ist dieses Ergebnis ein schwerer Schlag. Er nannte es eine „historische Herausforderung“. Der 36-Jährige hatte sich stark mit dem Projekt einer neuen Verfassung identifiziert. Zunächst bleibt also erst einmal diejenige von 1980 aus Zeiten der Pinochet-Diktatur in Kraft. Allerdings äußerten sowohl Präsident Boric als auch die Vertreter der moderaten Kräfte der chilenischen Rechten den Wunsch, umgehend ein neues Grundgesetz auszuarbeiten.

Verfassungsgegner lancierten Angstkampagne

Die Deutlichkeit des Ergebnisses erschreckte die Regierung und die Befürworter des neuen hochmodernen Grundgesetzes und übertraf die kühnsten Erwartungen der Gegner. Am Ende stimmten nur 38 Prozent der Chilenen für das neue Grundgesetz, das vollständige Geschlechterparität in allen Staatsämtern sowie einen offensiven Schutz der Natur vorgesehen hätte. Zudem sollte der Staat die Daseinsvorsorge bei Bildung, Gesundheit und Wohnen übernehmen. Besonders umstritten waren die Regelungen zur Plurinationalität, die den Indigenen, allen voran den Mapuche-Ureinwohnern, weitgehende Mitspracherechte und eine eigene Gerichtsbarkeit zuerkannt hätten. Der Entwurf nahm viele Forderungen aus der Zeit der sozialen Unruhen von 2019 auf und ging noch darüber hinaus.

Daher überrascht die Ablehnung in ihrer Klarheit, erklärt sich aber aus mehreren Gründen. Einer davon ist die Desinformations- und Angstkampagne der Verfassungsgegner, die nachweislich Unwahrheiten über die Folgen der neuen Verfassung verbreitete. Für viele Menschen war dieser Entwurf, der Chile auf eine neue soziale und politische Grundlage gestellt hätte, aber auch zu fortschrittlich. Einige wollten auch die Regierung um Präsident Boric abstrafen. Ihn macht die Bevölkerung für die Verschlechterung der Lebensqualität verantwortlich. Die hohe Inflation von 13,2 Prozent, die steigende Kriminalität in den Städten und die für Chile ungewohnt schwächelnde Wirtschaft haben Land und Leute tief verunsichert.

Boric kündigt Kabinettsumbildung an

Boric wandte sich knapp drei Stunden nach Schließung der Wahllokale mit einer landesweit übertragenen Fernsehansprache an die Bevölkerung: „Das chilenische Volk hat sich mit klarer Mehrheit entschieden. Ich tue alles in meiner Macht Stehende, um mit dem Kongress und der Zivilgesellschaft einen neuen Zeitplan für eine Verfassunggebende Versammlung zu finden“. Er kündigte noch für diese Woche eine Kabinettsumbildung an.

„Heute hat der gesunde Menschenverstand gesiegt“, sagte Javier Macaya, Vorsitzender der Rechtsaußenpartei UDI. „Das Ergebnis geht weit über die Frage von rechts oder links hinaus“. Macaya hatte sich schon vor dem Referendum vom Sonntag dafür ausgesprochen, auf alle Fälle eine neue Magna Charta auszuarbeiten, sollte der Entwurf wie jetzt geschehen durchfallen. „Man muss diese nur besser und richtig machen, so dass sie für alle Chileninnen und Chilenen annehmbar ist“.

Große Herausforderung für Präsident Boric

Vor allem in den Mittelschicht- und Reichenvierteln feierten die Menschen am Sonntagabend mit Autokorsos und Hupkonzerten. Auf der linken Seite des politischen Spektrums verfielen viele in Schockstarre und Trauer: „Wir haben wenigstens einen Moment lang von einer neuen Verfassung geträumt“, sagte die Lehrerin Cecilia Quidel aus dem Vorort Quilicura von Santiago. „Mich macht aber wütend, wie sehr die Lügenkampagne das Ergebnis beeinflusst hat. Und jetzt tut die Rechte so, als sei alles der freie Wille des Volkes gewesen“.

Die große Herausforderung des Präsidenten wird jetzt sein, die gemäßigten linken Kräfte in ein neues Verfassungsprojekt einzubinden und die radikalen Kräfte in seinem Parteienbündnis „Frente Amplio“ zu zähmen. Im Moment scheint unklar, ob das überhaupt gelingen kann.