Ärzte und Stadtseniorenrat im Kreis Böblingen kritisieren, dass die Kommunen dem Mangel an Hausärzten zu lange nicht entgegengewirkt haben. Die Kassenärztliche Vereinigung warnt jedoch vor einem Subventionswettlauf in Baden-Württemberg.

Sindelfingen - Immer wieder hat Thomas Schulz bei der Stadt auf das Problem hingewiesen: „Meine Befürchtung ist, dass ein älterer Patient eines Tages auf dem Weg zum Arzt stirbt – weil der Weg zu weit und zu beschwerlich ist.“ Der Vorstandsvorsitzende des Stadtseniorenrats in Sindelfingen ist bestürzt darüber, dass in der Stadt nach und nach die Hausarztpraxen schließen. Vier Hausärzte haben im vergangenen Jahr ihre alteingesessenen Praxen ohne Nachfolger aufgeben müssen. Die geschätzten 4000 Patienten, die damit keinen Hausarzt mehr haben, können nicht so ohne Weiteres auf einen anderen Arzt ausweichen. „Die Leute haben über 20 Ärzte abtelefoniert – ohne Erfolg“, sagt Schulz. Denn die anderen Ärzte im Kreis Böblingen seien bereits überlastet.

 

Auch Klaus Baier, der Präsident der Bezirksärztekammer Nordwürttemberg und Vorstand in der Landesärztekammer, ist einer der Sindelfinger Ärzte, die ihre Praxis im vergangenen Herbst aufgeben mussten. Lange Zeit hatte er gehofft, noch einen Nachfolger zu finden. Doch der aussichtsreichste Kandidat sagte ihm mit den Worten ab: „Das ist nicht meine Lebensperspektive.“ Eine Einstellung, für die Baier durchaus Verständnis hat: „Die Selbstständigkeit ist für die jungen Ärzte nicht mehr attraktiv.“ Die zunehmende Bürokratie, die teilweise absurde Ausmaße annehme, und die Angst vor Regressen und der finanziellen Verantwortung schrecke viele Mediziner ab. „Da ist es doch einfacher, als Angestellter in einem Krankenhaus zu arbeiten“, erläutert Baier. Eine Entwicklung, die längst auch in den Ballungszentren angekommen sei und sich nicht mehr nur auf den ländlichen Raum beschränke.

Jeder dritte Hausarzt ist 60 Jahre alt oder älter

Wenn 1671 Einwohner auf einen Hausarzt kommen, gilt das in Deutschland als ausreichend. Im Kreis Böblingen kommen jedoch durchschnittlich 1723 Einwohner auf einen Hausarzt. Akut ist der Mangel in Sindelfingen, wo diese Vorgabe nur noch zu 91 Prozent erreicht wird. Und das Problem wird größer: Laut der Statistik der Kassenärztlichen Vereinigung ist jeder dritte Hausarzt in Baden-Württemberg 60 Jahre oder älter, geht also in den kommenden fünf Jahren in den Ruhestand. Noch dramatischer ist die Situation im Kreis Böblingen bei den Orthopäden (41 Prozent sind mindestens 60 Jahre alt) und den Psychotherapeuten (45 Prozent). Ähnlich sieht es auch in anderen Kreisen der Region aus: 38 Prozent der Hausärzte in den Kreisen Ludwigsburg und Göppingen sind älter als 60, 55 Prozent der Psychotherapeuten im Rems-Murr-Kreis sowie 50 Prozent im Kreis Esslingen gehen in den kommenden fünf Jahren in den Ruhestand.

Obwohl die KV den Sicherstellungsauftrag der hausärztlichen Versorgung von der Politik zugewiesen bekommen hat, will Baier auch die Kommunen in die Pflicht nehmen: „Es gibt schon längst einen Wettkampf um die knapper werdende Ressource Arzt – wer da nicht mitmacht, hat schon verloren.“ Er fordert, dass beispielsweise geeignete Praxisräume den angehenden Ärzten zu bezahlbaren Konditionen zur Verfügung gestellt werden.

Die Stadt Sindelfingen will das Problem angehen, bremst jedoch zu große Erwartungen. „Die hausärztliche Versorgung gehört nicht zu unseren originären Aufgaben“, betont die Sprecherin Nadine Izquierdo. Dennoch führe man Gespräche mit dem Klinikverbund Südwest, möglichen Investoren und Eigentümern, um geeignete Räume für ein zentrales Ärztehaus zu finden. In den Stadtteilen finde eine Bestandsaufnahme statt. Um diese Aufgabe zu bewältigen, werde eine befristete Stelle ausgeschrieben. Auch im Landratsamt gibt es Überlegungen, Hausärzte zum Beispiel durch vergünstigte Mieten oder durch Hilfe bei der Beschaffung von Krediten in den Kreis zu locken.

Hausarzt mit Einzelpraxis stirbt aus

Die Kassenärztliche Vereinigung sieht diese Anreize aber kritisch. „Wir geraten in einen Subventionskreislauf, bei dem diejenige Stadt den Arzt bekommt, die am meisten Geld bietet“, warnt Kai Sonntag, der Sprecher der Kassenärztlichen Vereinigung. Sindelfingen verfüge mit guter Kinderbetreuung, ausreichend Jobs für den Partner und der Nähe zu Stuttgart ohnehin über viele attraktive Möglichkeiten. Dass es dennoch einen Engpass gibt, liegt laut Sonntag an einem allgemeinen Problem: „Es hat einen Strukturwandel gegeben, mit dem wir umgehen müssen.“ Ärzte – vor allem wenn es sich um Frauen handle – wollen Familie und Beruf unter einen Hut bringen und arbeiten deswegen häufiger in Teilzeit. Der Hausarzt mit seiner Einzelpraxis scheint dagegen auszusterben.

Ein Trend, dem man früher hätte entgegenwirken können, darin sind sich Klaus Baier und Thomas Schulz einig. Beide befürchten, dass nun vor allem gebrechliche Patienten unter der Situation leiden müssen. Bei der KV sieht man die Versorgung im Kreis jedoch noch nicht gefährdet: „Es ist zumutbar, dass ein Patient aus Sindelfingen zu einem Arzt nach Böblingen geht“, sagt Sonntag. Thomas Schulz weiß jedoch, dass viele Senioren diese Strecke nicht bewältigen können: „Außerdem wird kaum ein Arzt aus Böblingen Hausbesuche bei einem Patienten in Sindelfingen machen – doch darauf sind viele angewiesen.“