Von wegen öde Betonwüste! Der Marienplatz lebt. Reiner Bocka vom Café Galao hatte an der Verwandlung des Platzes zum Szenetreff großen Anteil. Zeit für eine späte Liebeserklärung, finden Viola Volland und Ingmar Volkmann.

Stuttgart - Der Stuttgarter Winter hat es in sich. Während man darauf wartet, dass es draußen irgendwann doch noch hell wird, schlägt schon wieder die Nacht zu – gnadenlos und spätestens um 15.30 Uhr. Bevor man daraufhin in einen von der Natur so vorgegebenen Schutzmechanismus umschaltet und bis März einen persönlichen Winterschlaf zelebriert, indem alle sozialen Kontakte auf ein Minimum reduziert werden, möchten wir einen Platz würdigen, der 2012 den Titel „urbanste Fläche“ der Stadt gewonnen hat: den Marienplatz im Stuttgarter Süden.

 

Vor wenigen Jahren galt der damals neu gestaltete Platz als Betonwüste ohne Leben. Inzwischen haben nicht nur die Menschen aus dem Süden den Fleck für sich erobert. Türkische Jugendliche, Familien, Hipster, junge Erwachsene, die sich zum Feierabendbier treffen – hier sammelt sich alles, obwohl der ein oder andere Nostalgiker immer noch bemängelt, dass mindestens eine Kastanie auf dem Platz fehlt. Auf eine Begrünung wollte aber scheinbar keiner warten, Anwohner und sonstige Frischluft-Fanatiker haben sich heimlich, still und leise in eigener Regie den Beton zurückerobert

„Die Gegend ist sehr entspannt, der Platz hat sich toll entwickelt, dabei könnte er sogar noch viel mehr sein“, sagt einer, der an der Verwandlung des Marienplatzes zum Szenetreff einen großen Anteil hat: Reiner Bocka. Gemeinsam mit Oliver Brünemann und Marcel Brucker führt Bocka das Café Galao in der Tübinger Straße – ein Treffpunkt von Künstlern, Kreativen und sonstigen Freigeistern der Stadt.

Premiere für das Marienplatzfestival

Diesen Sommer hat er mit Mitstreitern das Marienplatzfestival organisiert, auch für die Partyreihe Silent Friday ist Bocka, der sich als Reiner vorstellt und gleich zum Du übergeht, verantwortlich. Wenn es nach ihm ginge, gäbe es im Zentrum des Platzes einladende Sitzgelegenheiten – auch ein paar Stelen würde er aufstellen. Im Sommer könnten Sonnensegel wehen. Wenn es um Gestaltung geht, fängt der studierte Theologe gerne das Träumen an.

Das Marienplatzfest im Juli war seine Idee. Dafür hat er kleine Türme aus Paletten aufgebaut, auf denen die Besucher saßen. Singer-Songwriter spielten kostenlos auf großer Bühne, es gab Biocrepes, indische Spezialitäten, Biobratwurst, Pasta mit veganer Sauce. Auch Platzregen hat die Gäste nicht davon abgehalten, friedlich auf dem Platz zu feiern. Noch viele Wochen später seien Leute auf ihn zugekommen, um sich zu bedanken, erzählt Bocka. „Es war der Hammer, Junge und Alte waren da“, freut er sich immer noch. Einziger Wermutstropfen: im Bezirksbeirat wurde das Festival nur unter einem Aspekt nachbesprochen – der Lautstärke.

Gastroszene im Süden

Das Marienplatzfestival ist nicht nur den Besuchern in guter Erinnerung, es hat auch die Gastronomen vor Ort näher zusammengebracht. Inzwischen haben alle begriffen, dass sie voneinander profitieren. Das Galao läuft regelmäßig über. Anlaufstellen drum herum gibt es genug. Nebenan das Restaurant Noir von den Schocken-Machern, das Arrigato, das Café Kaiserbau, das Restaurant Madagascar.

Die hiesigen Gastronomen haben hier also erfolgreich das Feld bestellt, auch den Machern des Kaiserbaus kann man nicht genug danken, jedem Sonnenstrahl durch Außengastronomie die perfekte Bühne zu bieten. Mit der Eisdiele, die das Kaiserbau-Team neben der BW-Bank eröffnet hat, setzt man geschmacklich Maßstäbe. Ebenfalls ein Farbtupfer, der Publikum anzieht: Regina Fasshauer, die unter dem Label Blooms Blumen aus einem umfunktionierten Imbisswagen aus Thailand verkauft. Immer samstags wird ihr floraler Thaibollerwagen zum Treffpunkt. „Die Menschen, die sich hier ,herumtreiben’, scheinen ein feines Gespür für die kleinen, schönen, alternativen Dinge zu haben.“ Vor allem sei die Bespielung des Platzes organisch gewachsen.

„Der Marienplatz ist sicher auch deshalb so spannend, weil er eigentlich unglaublich unwirtlich ist, sich die Menschen der Betonwüste aber widersetzen und sich ein buntes Völkchen mischt – die „Bohème“ des angrenzenden Lehenviertels, Clochards, Alte und Junge, Kinder, Migranten und so weiter“, sagt Fasshauer. Der Schauspieler Till Wonka, im Sommer vom Staatstheater an das Düsseldorfer Schauspiel gewechselt, verbrachte seine letzten Monate in Stuttgart in einer WG direkt am Marienplatz. „Schade, dass ich den Ort so spät für mich entdeckt habe. Das ist die derzeit urbanste Ecke Stuttgarts. Überhaupt finde ich, dass der Süden mittlerweile der bessere Westen ist“, sagt er.

Auf ein Bier mit den „Süd-gartern“

Das findet auch Modedesignerin Florence Shirazi (Mademoiselle YéYé, Flaming Star). Sie hat vor zwei Jahren sogar eine Facebook-Gruppe mit dem vielversprechenden Titel „Marienplatz mag Bier“ gegründet. Subversives Ziel dieses Zusammenschlusses: „Einmal die Woche auf dem Marienplatz ab 19 Uhr ein Afterwork-Bier mit meinen Freunden trinken, die wie ich alle ,Süd-garter’ sind“, so Shirazi.

Zurück zu Reiner Bocka . Dass das Galao mal so brummen sollte, hätte anfangs wohl kaum einer gedacht. Die Adresse galt als „totes Loch“, erinnert sich der 47-Jährige. Er stieß im Frühjahr 2009 mit zwei Wochen Verspätung zu Brünemann und Brucker, nachdem er das erste Konzert im Galao organisiert hatte. Die Vormieter waren alle kläglich gescheitert. Zuletzt hatte sich hier ein Bioimbiss versucht. Heute werden die Galao-Macher für ihre Lage beneidet. Das Café zieht wie ein Magnet unterschiedlichste Gäste an: von Studenten bis jung gebliebenen 50-Jährigen. Mittwochs und samstags gibt es Konzerte – organisiert von Bocka. Musiker aus aller Welt kommen zu ihm, treten im Galao auf und schlafen anschließend in seiner Zweizimmer-Wohnung in Mitte. Sechs frisch bezogene Betten hat er da stehen.

Auch im Galao ist es kuschelig. „Es ist mein Ding, Gemütliches zu schaffen“, sagt Bocka. Kerzen stehen auf den runden Tischen, auf den Bänken liegen Schaf-Felle. Gerade läuft der Singer-Songwriter Alexi Murdoch. Bocka hat den Schotten mal angeschrieben, ob er im Galao auftreten will, aber der Musiker ist zu groß für das Café.

Nächstes Jahr soll es, wenn es nach den Veranstaltern des Marienplatzfestes geht, eine Neuauflage geben. Der Termin – 18. bis 21. Juli – ist beantragt. Ob mit oder ohne Fest: der nächste Sommer kann kommen.