42,195 Kilometer in weniger als zwei Stunden – das halten viele für unmöglich. Bald könnte es aber so weit sein. Der Sportartikelhersteller Nike wird auf der Rennstrecke in Monza versuchen das Unmöglich möglich zu machen.

Stuttgart - Vor dem Brandenburger Tor mobilisierte Paul Tergat die letzten Kräfte. Zum Schlussspurt setzte der Kenianer an, um endlich seinen Landsmann Sammy Korir abzuschütteln, der eigentlich nur als Tempomacher vorgesehen war. Mit einer Sekunde Vorsprung rettete sich Tergat ins Ziel. 2:04,55 Stunden benötigte er an jenem 28. September 2003 für die 42,195 Kilometer durch Berlin – es war eine neue Weltbestleistung, der erste vom Leichtathletik-Weltverband IAAF anerkannte offizielle Marathon-Weltrekord.

 

Weltrekord liegt bei 2:02,57 Stunden

Glücklich und erschöpft saß Tergat hinterher auf dem Podium. Sein Trainingspensum umfasste bis zu 300 Kilometer pro Woche, knüppelhart waren seine Tempoeinheiten. Er konnte sich nicht vorstellen, dass man noch viel schneller laufen kann. Vielleicht ein bisschen, sagte Tergat, „aber einen Marathon unter zwei Stunden zu laufen – das ist und bleibt unmöglich“.

Auch mehr als 13 Jahre später ist seine These nicht widerlegt. Zwar wurde sein Weltrekord mehrfach unterboten und liegt derzeit bei 2:02,57 Stunden, aufgestellt von Dennis Kipruto Kimetto (Kenia) beim Berlin-Marathon 2013. Es fehlen aber immer noch knapp drei Minuten – auf diesem Niveau eine Ewigkeit. Trotzdem soll sie schon bald geknackt werden, die magische Zwei-Stunden-Marke, die vielleicht letzte Schallmauer in der Welt des Laufens.

Die Idee ist nicht neu – Projekt „Sub 2“ gibt es seit mehr als zwei Jahren

Der Finne Taisto Mäki war 1939 der erste Mensch, der über 10 000 Meter weniger als 30 Minuten benötigte (29:52,6 Minuten); 1954 lief der Brite Roger Bannister als Erster die Meile unter vier Minuten (3:59,4 Minuten). Jim Hines (USA) war es, der 1968 die Zehn-Sekunden-Schallmauer über 100 Meter durchbrach (9,95 Sekunden); im Halbmarathon blieb 1993 Moses Tanui (Kenia) als erster Läufer unter einer Stunde (59:47 Minuten). Für die doppelte Strecke soll jetzt nicht mehr als die doppelte Zeit benötigt werden. Es ist die Suche nach dem Heiligen Gral, die die Leichtathletik-Szene elektrisiert.

Bereits seit mehr als zwei Jahren arbeitet der Sportwissenschaftler Yannis Pitsiladis von der Universität Brighton an seinem Projekt „Sub 2“, dessen Zugpferd Kenenisa Bekele ist, der äthiopische Weltrekordhalter über 5000 (12:37,35) und 10 000 Meter (26:17,53). An vielen verschiedenen „Marginal Wins“, also ganz kleinen Zeitgewinnen durch verbessertes Schuhwerk oder ein revolutionäres Sportgetränk, tüftelt Pitsiladis – in der Summe soll das die nötigen knapp drei Minuten ergeben.

Projekt „Breaking 2“ sorgt für Aufruhr in der Marathon-Szene

Im Jahr 2019, so war es zu Beginn vorgesehen, sollte der Rekordlauf stattfinden. Jetzt aber müssen sich der Forscher und sein Team sputen. Denn ihr Projekt, das von der Weltantidopingagentur (Wada) gefördert wird und für das ursprünglich ein Budget von 30 Millionen Euro veranschlagt war, hat mächtige Konkurrenz bekommen: den Sportartikelgiganten Nike.

Mit dem „Oregon Project“ um die Olympiasieger Matthew Centrowitz und Mo Farah ist der US-Konzern in Visier der Dopingfahnder geraten – das Prestigeprojekt „Breaking 2“ sorgt nun für Aufruhr in der Marathon-Szene. Im Dezember kündigte Nike an, dafür zu sorgen, dass noch in diesem Jahr die Zwei-Stunden-Marke fällt. Für das Projekt, an dem Trainer, Psychologen, Ernährungswissenschaftler, Physiologen, Biomechaniker, Ingenieuren und Materialentwickler arbeiten, wurden drei afrikanische Spitzenläufer engagiert, die das tollkühne Unterfangen in den Tat umsetzen sollen: Eliud Kipchoge (Kenia), der Olympiasieger von Rio, Lelisa Desisa (Äthiopien), Gewinner des Boston-Marathons 2013, und Zersenay Tadese, Halbmarathon-Weltrekordler aus Eritrea.

Nike liefert perfekte Bedingungen für den Weltrekord-Versuch

Seit vergangener Woche ist auch bekannt, wo Nike die Schallmauer durchbrechen will: auf der Formel-1-Hochgeschwindigkeitsstrecke in Monza. Auf der ganzen Welt hatten Mitarbeiter nach einem passenden Ort gesucht und sich am Ende für Italien entschieden. Die Argumente: ideales Klima, kaum Kurven, sondern nur zwei lang gezogene 180-Grad-Biegungen auf dem 2400 Meter langen, topfebenen Kurs. In Berlin, wo die letzten sechs Weltrekorde gelaufen wurden, gibt es 17 enge Kurven.

Werbeeffekt für Nike

In ausgeklügelter Windschattenformation sollen die drei Läufer im Mai hinter einem Leitfahrzeug und ständig wechselnden Tempomachern auf die Strecke gehen und alle sieben Minuten von Begleitmotorrädern Getränke gereicht bekommen. Ob die IAAF einen Weltrekord anerkennen würde, ist ungewiss – viel wichtiger dürfte den Nike-Leuten aber ohnehin der Werbeeffekt sein. Ein neuer, weniger als 200 Gramm leichter Laufschuh wurde bereits öffentlichkeitswirksam präsentiert, ab Juni wird er in den Läden stehen. Dank einer Karbonplatte in der Sohle soll er eine Energieeinsparung von vier Prozent bringen.

Bleibt die Frage: Ist es auch unter laborartigen Bedingungen wirklich möglich, dass ein Mensch ohne verbotene Hilfsmittel 42-mal am Stück den Kilometer in 2:50 Minuten laufen kann?

1:57:58 Stunden sind möglich

In einer aufsehenerregenden Studie untersuchte der US-Wissenschaftler Michael Joyner 1991 drei physiologische Faktoren, die als wichtigste Einschränkungen der menschlichen Ausdauerleistung gelten: die maximale Sauerstoffaufnahme, die Blutlaktatschwelle und die Ökonomie der Lauftechnik. Das Ergebnis: Bei optimaler Kombination aller Faktoren sei ein Marathon in 1:57:58 Stunden zu schaffen. „Das zeigt: Es ist möglich“, sagt Arne Gabius.

Der 35-Jährige ist Mediziner und deutscher Marathon-Rekordhalter (2:08,33 Stunden), dieser Tage kam er aus Kenia zurück. „Es gibt im Marathon noch Optimierungspotenzial“, sagt er, in der Ernährung zum Beispiel, beim Material, in der Trainingssteuerung. Ob es in Monza tatsächlich klappen wird, das vermag Gabius nicht vorherzusagen – „aber es ist wichtig, dass man sich im Sport keine Grenzen setzt“.

Einen ganz kleinen Beitrag zum Zwei-Stunden-Lauf will auch der Stuttgarter leisten: Wenn Gabius am Sonntag beim Halbmarathon in New York seinen ersten Wettkampf nach langer Verletzungspause bestreitet, darf er den neuen Wunderschuh tragen, als Versuchskaninchen sozusagen.